Während der Pandemie haben antisemitische Verschwörungstheorien stark zugenommen, wie der aktuelle Jahresbericht zum weltweiten Antisemitismus der Universität Tel Aviv zeigt. Daneben gibt es aber auch den subtilen alltäglichen Antisemitismus, der den Absendern möglicherweise nicht so bewusst ist. Ihm widmet sich der Schweizer Autor Thomas Meyer.
Gegen «freundschaftliche Scherze»
Er habe genug von Lügenmärchen über Jüdinnen und Juden, schreibt Thomas Meyer in seinem neuen Buch «Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?». Darin räumt der Schriftsteller und Sohn eines christlichen Vaters und einer jüdischen Mutter mit Formen des alltäglichen Antisemitismus auf.
«Ich will mir keine frechen Scherze mehr anhören. Schon gar nicht, dass es sich dabei nicht um Märchen, sondern um Tatsachen handle und die Scherze freundschaftlich seien, nicht frech.»
Anekdoten aus Thomas Meyers Alltag
Das Jüdische spielt im bisherigen Werk Thomas Meyers immer wieder eine zentrale Rolle. So auch in den bekannten «Wolkenbruch»-Romanen, in denen er sich literarisch mit antijüdischen Stereotypen auseinandersetzt.
Im aktuellen Essay schreibt der Autor: «Ich habe diesen Text vor allem geschrieben, damit Sie, liebe nichtjüdische Personen, sich mit dem alltäglichen Antisemitismus auseinandersetzen, der nie handgreiflich wird, sich stets realistisch gibt – und dadurch ebenso harmlos wie seriös wirkt und sich in der Weltsicht vieler friedliebender, anständiger und gebildeter, eben guter Menschen eingenistet hat. Vermutlich auch Ihrer.»
Erst harmlos Lächeln, dann beleidigt sein
Das Buch ist gespickt mit Anekdoten, in denen Thomas Meyer von seinen fast täglichen Begegnungen mit dem Antisemitismus erzählt. Dabei geht es nicht um unverbesserliche Glatzköpfe, die Juden verprügeln oder jüdische Friedhöfe schänden.
Es geht vielmehr um Menschen, die viel auf ihre Bildung oder ihre gepflegten Sitten geben – und dennoch oft harmlos lächelnd Stereotype kolportieren. Etwa, dass die Juden besonders geschäftstüchtig oder ausgesprochen humorvoll seien. Oder dass sie ein besonderes Flair fürs Geld machen hätten. Oder nach der Weltherrschaft strebten.
Widerspreche man Aussagen wie diesen, sei die Antwort immer dieselbe: «Dich meine ich nicht. Du bist völlig in Ordnung. Ich meine die Juden ganz oben – die in der Finanzwelt», schreibt Meyer.
Versuche man dem Gegenüber klarzumachen, dass dies nichts ändere am diskriminierenden Charakter der Aussagen, weil diese pauschal seien, jeglicher realen Grundlage entbehrten – und weil die Nazis Ähnliches verbreitet hätten, sei der Absender beleidigt. «So was will der gewaltlose Antisemit nicht hören. Es widerspricht seinem noblen Selbstbild.»
Plakative Beispiele gegen platte Theorien
Die Stärke von Thomas Meyers Buch liegt darin, dass er unverblümt darstellt, wie er persönlich den Antisemitismus in seinem Alltag immer und immer wieder erlebt.
Weniger überraschend sind indessen jene Abschnitte, in denen der Autor darlegt, weshalb sich die Stereotype derart hartnäckig halten. Dies liege, heisst es im Buch, an der jahrhundertealten «kollektiven Prägung».
Oder anders gesagt: Eine Generation schwatze der anderen antisemitisches Gedankengut nach, ohne sich dessen immer bewusst zu sein.
Die Frage nach dem «Warum»
Dieser Teufelskreis lasse sich nur durchbrechen, wenn wir bei uns selbst genau überprüften, was wir über andere – seien es Juden, Homosexuelle oder Dunkelhäutige – sagen.
«Wir müssen uns fragen, warum wir gemeine Dinge sagen wollen. Woher kommt das in mir? Diese Sorgfalt gegenüber sich selbst ist, glaube ich, das beste Mittel gegen Diskriminierung», so Meyer.
Sich selbst befragen – auch diese Empfehlung ist nicht neu. Sie ist eine Binsenwahrheit. Aber nach der Lektüre dieses schlüssigen und wortgewandten Buches leuchtet ein, dass Thomas Meyer seine Gründe hat, sie uns Leserinnen und Lesern in Erinnerung zu rufen.