Richtig warm wird es nie im windigen Städtchen Vardø auf der gleichnamigen Insel im norwegischen Teil der Barentsee. Auch im Sommer steigt hier die Durchschnittstemperatur kaum über zehn Grad. Ein enger und langer Unterwassertunnel verbindet Vardø mit dem norwegischen Festland. Nur wenige Kilometer draussen im Meer verläuft die Territorialgrenze zum grössten Land der Welt: Russland – und das schon seit dem 14. Jahrhundert.
Diese besondere Lage prägt das Leben in der Stadt, sagt Bürgermeister Ørjan Jensen: «Wir waren und sind ein wichtiger Handelsplatz zwischen Ost und West, von hier gehen und kommen Schiffe in Richtung Osten nach Murmansk und Arkangelsk.»
Aber Vardø mit seinem 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist nicht nur als Ort der Begegnung und des Austausches wichtig, sondern auch als Frontstadt der Nato zu Russland, wie Jensen betont: «Wir sind hier sehr stolz darüber, seit über 700 Jahren die Ostgrenze Norwegens zu sichern und zur Nato-Verteidigung beitragen zu können».
Russische Luftwaffe übt Angriffe auf Radaranlage
Das hat einen Preis: Denn seit den 1980er Jahren haben die USA mitten in Vardø vier grosse Radaranlagen errichtet, ohne dass die Bevölkerung genau weiss, welche Funktion diese Anlagen eigentlich haben. Inoffiziell ist bekannt, dass es sich dabei um einen wichtigen Teil der amerikanischen Raketenabwehr handelt. Und, dass Russland Vardø deshalb im Visier hat: «In der Vergangenheit hat die russische Luftwaffe wiederholt Bombenangriffe auf Vardø geübt. Im Kriegsfall hier im hohen Norden sind wir wohl die ersten, die angegriffen würden», sagt Vardøs Bürgermeister.
Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine legen nun keine Schiffe aus Russland mehr in Vardø an. Stattdessen hat die Gemeinde damit begonnen, fast vergessene alte Bunker und Schutzräume aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg auszugraben und funktionstüchtig zu machen.
Das Ende einer langen Freundschaft
Vardø und der östliche Teil der norwegischen Provinz Finnmark, die an Russland grenzt, befinde sich in einem Schockzustand, sagt Lars Georg Fordal, der Leiter des sogenannten Barentssekretariates in der südlichen Nachbargemeinde Kirkenes: «Plötzlich leben wir wieder in einer düsteren und dunklen Zeit.»
Fordal hat in den letzten 30 Jahren eine enge Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg aufgebaut. Davon zeugen zweisprachige norwegisch-russische Strassenschilder und der visumfreie Verkehr zwischen den Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzgemeinden. Dieser galt bis zum 24. Februar, an dem Tag begann Russland seinen Krieg gegen die Ukraine . «Hier im Norden waren wir jetzt lange wirklich gute Nachbarn», so Fordal.
Dabei hatten gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Nordostnorwegen und Nordwestrussland auch damit zu tun, dass die sowjetischen Truppen am Ende des Zweiten Weltkrieges diese Region von Nazideutschland befreite – und sich dann anschliessend sofort wieder zurückzogen.
Aber jetzt – nach Russlands Überfall auf die Ukraine – gibt es für die gegenseitigen Sympathien kaum mehr Platz: Moskau hat Norwegen auf die Liste der «unfreundlichen Staaten» gesetzt. In Vardø und Nordostnorwegen herrschen jetzt wie auch anderswo Verunsicherung und Angst.