Amazonien, das grösste und vielfältigste Ökosystem, steht kurz vor dem Umkippen. Im schlimmsten Fall könnte das Gebiet innerhalb des nächsten Jahrzehnts seine Fähigkeit als globaler Klimaregulator verlieren. Die Folgen wären für Mensch und Umwelt weltweit dramatisch.
Vor dieser Gefahr warnt der brasilianische, indigene Aktivist und Philosoph Ailton Krenak. Doch wie den Amazonas schützen?
Laut Krenak sicher nicht mit Nachhaltigkeitsstrategien. Denn: «Nachhaltigkeit ist ein Mythos, ein räuberischer Mythos und eine Lüge. Sie ist der Kern der kolonialen, ausbeuterischen Idee.» Krenaks buschige Augenbrauen heben sich, während er diese Worte deutlich und bedächtig fallen lässt, wie kleine Bomben.
Botschafter für die indigenen Völker
Ailton Alves Lacerda Krenak wurde 1953 in Minas Gerais im Tal des Rio Doce geboren. Mit 16 Jahren lernte er lesen und schreiben. Er wurde Journalist. Worte sind seine Waffen. Er setzt sie bewusst und sie enthalten Zündstoff.
Berühmt wurde er 1987 mit einem Auftritt vor der brasilianischen verfassungsgebenden Versammlung. «Die indigenen Völker haben jeden einzelnen der acht Millionen Quadratkilometer Brasiliens mit Blut getränkt», sagte er, während er da stand in seinem blütenweissen Anzug mit Krawatte und sein Gesicht mit der schwarzen Trauerfarbe Genipapo beschmierte.
Das Ökosystem gerät aus den Fugen, wenn man nur einen Punkt verschiebt.
Sein Auftritt trug dazu bei, dass die Rechte der Indigenen in der brasilianischen Verfassung von 1988 festgehalten wurden wie in keinem anderen lateinamerikanischen Land. Seitdem ist Krenak Botschafter und Vorkämpfer der Indigenenbewegung.
Nachhaltigkeit als Vorwand?
Vom Konzept der Nachhaltigkeit hält er nichts. Es diene allein dazu, die Ausbeutung des Planeten zu rechtfertigen und endlos fortzuführen, so Krenak. Er ist sich sicher, so gehe es bis zur Erschöpfung weiter.
Ein Negativbeispiel dafür ist die als nachhaltig geltende Energie aus dem Wasserkraftwerk Belo Monte am Rio Xingu, einem wichtigen Seitenfluss des Amazonas. Das Kraftwerk trocknet ein 130 Kilometer langes Gebiet aus, in dem unter anderem drei indigene Völker und Tausende von Arten leben. Laut Medienberichten führte das zur Vertreibung von 55‘000 Menschen.
«Das riesige terrestrische Ökosystem gerät aus den Fugen, wenn man nur einen Punkt verschiebt», kritisiert Krenak. Deshalb diene die Idee der Nachhaltigkeit nur dem Raubtierkapitalismus.
Nachhaltigkeit ist in seinen Augen ein Vorwand, um wie bisher weiter zu konsumieren und zu extrahieren. «Sie ist ein räuberischer Mythos und der Kern der kolonialen, ausbeuterischen Idee.»
«Macht eine Diät!»
Um den Amazonas zu retten, verordnet Krenak den Industriestaaten stattdessen eine Diät. Denn mehr als die Hälfte aller abgeholzten Flächen im Amazonasgebiet dienen heute der Fleischwirtschaft als Weideflächen. 2019, unter dem Mandat von Bolsonaro, stieg Brasilien zum weltgrössten Soja-Produzenten auf.
«Europa muss aufhören, Fleisch, Soja, Mineralien und Holz aus dem Amazonasgebiet zu konsumieren», moniert Krenak. «Hört auf, die Welt zu verschlingen! Ändert Eure Gewohnheiten! Macht eine Diät. Eine Diät für zehn Jahre!»
Lernen von den Indigenen
Während dieser zehn Jahre könnten Forschungsteams den Regenwald besser studieren und Vorschläge für seine gemeinsame Bewirtschaftung erarbeiten. Dann könne man «Praktiken des Gleichgewichts entwickeln – nicht der Nachhaltigkeit, sondern Praktiken der Kohärenz und des Zusammenspiels menschlicher Gemeinschaften mit dem Territorium, mit dem Ökosystem», sagt Krenak. So wie die Indigenen das immer schon täten.
Es fängt mit dem Park an und hört mit dem Parkplatz auf.
Tatsächlich liegen die stabilsten und gesündesten Ökosysteme der Erde, die für den Fortbestand der Arten und des menschlichen Lebens ausschlaggebend sind, in indigenen Schutzgebieten. Neuere Untersuchungen zeigen die enorme Bedeutung indigener Territorien für den Umweltschutz. Doch diese Territorien sind durch illegale Landnahme und den Bergbau – letztlich durch unseren Massenkonsum – extrem gefährdet.
Eine eindringliche Stimme
Krenaks Stimme wird immer stärker gehört. 2021 erschien sein eindringlicher Appell «Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen» auf Deutsch. Im Gespräch wechselt er zwischen einem scharfen Ton, leichter Ironie und einer fast liebevollen Art zu sprechen.
Er beherrscht die Register und verliert bei allem Ernst seiner Worte nie das menschliche Mass. Behutsam bewegt er beim Sprechen seine Hände, formt Kreise und wägt ab. Er nähert er sich dem Gegenstand, bis er ein treffendes Bild dafür gefunden hat.
Ausbeutung im Schutzgebiet
Anstatt den Planeten Erde als einen lebendigen Organismus zu betrachten, der uns Wasser und Nahrung schenkt, würden wir ihn ausbeuten und ihm alle Reichtümer entreissen, mahnt Krenak. Dafür werden sogar Naturschutzgebiete «flexibilisiert», wie das Biosphärengebiet des Espinhaço-Gebirges von Minas Gerais.
Seit dem 17. Jahrhundert stecken die kolonialen Tentakel des intensiven Bergbaus im Naturschutzgebiet und die Industriestaaten investieren in diese Ausbeutung. «Für mich ist Naturschutz Kontrolle. Er gilt nicht für die Gesamtheit von Mensch und Umwelt», schimpft Krenak. «Deshalb sage ich: Es fängt mit dem Park an und hört mit dem Parkplatz auf.»
«Grossvater Fluss» im Koma
Kolonialismus, Vertreibung und die Folgen von Bergbaukatastrophen hat das Volk der Krenak am eigenen Leib erfahren. Als seine Eltern jung waren, wurden die Dörfer der Krenak, die an der Grenze zwischen Espírito Santo und Minas Gerais im Tal des Rio Doce lebten, ausgelöscht und die Menschen mussten sich neu ansiedeln.
2015 brach der Damm des Eisenerzbergwerks von Bento Rodrigues. In der toxischen Schlammlawine starben 19 Menschen. Zwei Tage später traf die giftige Flut im Dorf der Krenak ein. Sie legte den Rio Doce «ins Koma», den die Krenak als ihren Grossvater verehren. 137 Familien verloren ihre Lebensgrundlage.
Bolsonaros Erbe
Dass Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar dieses Jahres die Amtsgeschäfte von seinem Vorgänger Jair Bolsonaro übernahm, bewertet Krenak als einen Sonnenstrahl der Hoffnung.
Bolsonaro betrachtete Amazonien als Rohstofflager. Er liess bei praktischer Straffreiheit die Holz- und Agrarlobby von der Leine und animierte den illegalen Bergbau weiter in indigene Gebiete vorzurücken.
Ob der neue Präsident den Raubbau in Amazonien stoppen kann, ist nicht sicher. «Er wird eine Menge Arbeit haben», meint Krenak.
Bolsonaro habe einen «Speer im Amazonasgebiet» hinterlassen: die gesamte Infrastruktur der Agrarindustrie, finanziert von der Nationalbank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (BNDES). Aus wirtschaftlichem Kalkül und politischer Bequemlichkeit werden diese Tentakel wahrscheinlich im Wald stecken bleiben, vermutet der Aktivist.
Der Mensch ist nicht das Zentrum
Lula helfe wie eine «Aspirin» gegen den Schmerz, doch Aspirin heilt keinen Krebs, sagt Krenak. Der schlimmste Fehler im westlichen Denken sei die anthropozentrische Logik – der Irrglaube, dass der Mensch einzigartig sei und ihm das Recht gäbe, alles zu verschlingen.
Deshalb sei auch das Konzept der Nachhaltigkeit eine falsche Sorge um die Zukunft. Denn das kapitalistische, verschlingende System bleibe dabei bestehen.
Ailton Krenak findet einprägsame Bilder für den Zustand der Welt und die Dummheit des Homo Sapiens, der lieber über das Ende der Welt nachdenke als über das Ende des Kapitalismus. Die Menschen seien eben nicht «zertifiziert», sagt er mit der liebevollen Ironie, die so typisch ist für das indigene Denken. Sie können durchaus schiefgehen.
Jagd auf Gott
Er verweist auf eine Überlieferung der Krenak: Sie erzählt, wie der Schöpfer die Menschen auf der Erde ausgesetzt hat und irgendwohin ins Weltall gegangen sei. Später will er nachsehen, was aus ihnen geworden ist.
Wie findest du uns, deine Geschöpfe?
So beschliesst er, sich in einen Ameisenbären zu verwandeln und verschwindet im Gestrüpp. Irgendwann kam eine Gruppe von Jägern mit Knüppeln und Schlingen, sie stürzten sich auf ihn, fingen ihn, nahmen ihn mit in ihr Lager – natürlich, um ihn zu essen.
Zwei Kinder, denen sich der Schöpfer zu erkennen gegeben hatte, verhinderten, dass man ihn aufs Feuer legte, und ermöglichten seine Flucht. Von einer Anhöhe aus riefen sie ihm nach: «Grossvater, wie findest du uns, deine Geschöpfe?» Und Gott antwortete: «Es geht so.»