«Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.» Das schrieb Max Frisch im Vorwort des Buches «Siamo Italiani» von Alexander J. Seiler. Das berühmte Zitat steht gleich zu Beginn der Ausstellung im historischen Museum der Stadt Lausanne.
Tunnel für den Orient-Express
In den Räumen wird die Geschichte der Einwanderung aus Italien beleuchtet – aus einem Lausanner und Westschweizer Blickwinkel. Auch in der Suisse romande wurden die Arbeitskräfte aus dem Süden für Bauwerke eingesetzt. Etwa für die berühmten Brücken «Pont Chauderon» oder «Pont Bessières» in Lausanne, aber auch den Simplon-Tunnel oder den Mont d’Or-Tunnel bei Vallorbe.
Letzterer war für den Bahnverkehr besonders wichtig. «Er fügte die Schweiz in die internationale Ost-West-Achse ein», sagt Sylvie Costa, Co-Kuratorin der Ausstellung. Sogar der luxuriöse Orient-Express fuhr von Paris her über Vallorbe durch die Schweiz.
Doch von diesem Glanz haben die tausend in Vallorbe einquartierten Gastarbeiter nichts. Ihr Dorf wird in der Gegend als «Village Nègre» bezeichnet.
Auch in Lausanne sind die Lebensbedingungen schwierig. Eingepfercht in Schlafsäle mitten in der Stadt bauen sie rasch ein eigenes Netzwerk von Lebensmittelläden und ein Restaurant auf. Später reisst die Stadt Lausanne das Quartier ab, als zugleich der Bach «Flon» unter Tag gelegt wird. Die Hygienezustände in den Häusern waren katastrophal.
Einige wenige Gastarbeiter schaffen den Sprung zum Unternehmer und bauten der Stadt Lausanne prägende Brücken und Reservoirs. «Könnten die Brücken und Häuser sprechen, sie würden es auf Italienisch tun», ist ein Bauarbeiter in der Ausstellung zitiert.
Mussolini, der Gewerkschafts-Sekretär
Um 1902 wandert ein italienischer Staatsbürger ein, der in die Weltgeschichte eingehen sollte: Benito Mussolini, später faschistischer Anführer Italiens. Er schläft unter Brücken, wird mehrmals ausgewiesen und kommt dennoch zurück.
Weil er gut schreiben kann, wird er Sekretär bei der Maurer-Gewerkschaft «Muraria» und besucht auch ein Semester Unterricht an der Universität Lausanne. Als er schon Diktator Italiens ist, verleiht ihm die Universität 1937 einen Ehrendoktortitel. Ein Titel, der bis heute umstritten ist.
Initiativen gegen Überfremdung
Nicht nur die Einwanderer des 19. Jahrhunderts lebten unter prekären Bedingungen und stiessen auf Ablehnung. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen 1961 und 1972, wurden in Lausanne die Arbeiterin Holzbaracken einquartiert. Zudem blieben sie einsam, da das Saisonnier-Statut keinen Familiennachzug erlaubte.
Und: In der Schweizer Politik regt sich Widerstand. In Zürich gründet Albert Stocker 1963 die «Anti-Italiener Partei», das Wort «Überfremdung» macht die Runde. 1970 und 1974 folgen die beiden Volksinitiativen von James Schwarzenbach. Zwar wurden beide abgelehnt, dennoch war der Ja-Anteil von 46 Prozent 1970 ein Schock für die politische Schweiz.
Mitte der 1970er-Jahre folgt die Ölkrise, es gibt weniger Arbeit. Über 200'000 Gastarbeiter gehen in ihre Heimatländer zurück. Erst jetzt kippt das Bild der Italienerinnen und Italienern und wird positiv. «In der Schweizer Gesellschaft entsteht ein friedlicheres Klima», sagt Co-Kuratorin Sylvie Costa.
Heute ist die italienische Kultur nicht mehr wegzudenken aus der Schweiz. Der Gang in die Pizzeria, der Traum von der Vespa, die Begeisterung für den italienischen Fussball. Der Weg bis dahin war für die Italienerinnen und Italiener ein Spiessrutenlauf. Die Ausstellung in Lausanne zeichnet ihn aus Westschweizer Perspektive präzise nach.