Nach ihrem Ausstieg aus einer Chrischona-Gemeinde fühlte sich Nadja Holliger erst einmal befreit. Gleichzeitig beschlich sie ein schlechtes Gewissen und die Angst, vielleicht doch in der Hölle zu landen. So tief sass die Prägung, die sie in einer streng religiösen Gemeinschaft erhalten hatte.
Beim Ausstieg war Holliger 16 Jahre alt, heute ist sie 40. Der Ausstieg sei «harte Arbeit», erzählt sie – vor allem Arbeit am eigenen «Ich». Zu spüren, was sie will und ihr gut tut, müsse sie mühsam lernen.
Der innere Friede nach dem Ausstieg
Aus Rebellion, und um die spirituelle Leere zu füllen, habe Holliger nach ihrer Abkehr von Gott, der Bibel und der Gemeinde krampfhaft nach etwas Neuem gesucht: Esoterik, Magie, alles Mögliche.
Doch seit einigen Wochen sei Ruhe eingekehrt. Die Rastlosigkeit sei einem inneren Frieden gewichen. Dass es irgendwie eine höhere Macht gebe, davon sei Holliger überzeugt.
Um sich mit anderen auszutauschen, gründete sie eine Selbsthilfegruppe. Dort geht auch Florian Z. hin, ein Student Ende 20. Ihn hatte die Suche nach Sinn, Geborgenheit und Akzeptanz in eine Freikirche geführt.
Auf die anfängliche Freude sei ein wachsender Druck gefolgt. «Ist Gott mit mir zufrieden?» habe er sich ständig gefragt. «Einem vollkommenen Wesen kannst du aber nie genügen», so Florian heute.
Vier Jahre war er in der Gemeinschaft, bevor er sie verliess: «Ich merkte, dass ich meine Bedürfnisse auf Gott projiziert hatte. Doch dieser Gott kann diese Bedürfnisse nicht erfüllen.»
Statt Gott ist das «Ich» gefragt
Nun sieht Florian sich selbst gefordert, diese Leerstelle zu füllen. Mit dem Verlust von Geborgenheit und Sicherheit umzugehen, sei ein Prozess.
Er versuche, das Schöne und Gute im Kleinen, im Alltag zu finden – in tiefen Freundschaften, in denen er sich verletzlich zeigen dürfe. In der Natur und der Beschäftigung mit Kreativität. Sein Fazit: «Auch ohne dass ein Gott mich auserwählt hat, ist das Leben sinnvoll und wertvoll.»
Während der Corona-Pandemie hat sich bei WhatsApp und auf Instagram ein deutschsprachiges Netzwerk entwickelt, in dem sich Menschen austauschen, die aus einer hoch religiösen christlichen Gemeinschaft kommen und den evangelikalen Glauben ganz oder teilweise hinter sich lassen.
Die Mitgünderin Mona Krähling erzählt, die Geschichten seien verschieden, so wie die Themen, die Menschen beschäftigen. Je nachdem, welche Theologie in ihrer Gemeinde gepredigt wurde. Wenn Gott gehe, entstehe Platz für die Suche nach der eigenen Identität, nach Gefühlen und Wünschen.
«Auf die eigenen Empfindungen zu hören, wird einem in vielen Gemeinden völlig abtrainiert», sagt Krähling. «Es geht um Unterordnung. Darum, sich Gott und der Gemeinde hinzugeben.»
Atheismus oder liberalerer Glaube – beides ist schwierig
Krähling selbst möchte am Glauben festhalten. Aber an einem, der Positives bewirkt, der heilsam ist. Die 26-Jährige hat Theologie studiert und macht derzeit einen Master in Interreligiösen Studien.
Das Netzwerk ist innerhalb weniger Monate gewachsen, Betroffene tauschen sich online aus. Manche von ihnen wollen gar nichts mehr von Gott wissen und werden atheistisch, andere suchen Wege, ein neues Gottesbild zu entwickeln. Beides sei sehr herausfordernd, sagt Mona Krähling.
Bald will das Netzwerk einen Verein gründen, um die wachsende Arbeit stemmen zu können. Der Bedarf an Austausch, Vernetzung und hilfreichen Impulsen sei gross.