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Interview mit Katja Petrowskaja
Aus Kultur-Aktualität vom 25.02.2022. Bild: IMAGO / Müller-Stauffenberg
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Autorin Katja Petrowskaja «Putin ist es egal, ob er die Welt in die Luft sprengt»

Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja setzte sich in ihrem prämierten Buch «Vielleicht Esther» mit den Schicksalen ihrer Grosseltern in den beiden Weltkriegen auseinander. Damals hatte sie keine Angst vor einem dritten. Heute sagt sie am Telefon in Armenien: «Er ist da.» Ferngespräch mit einer Fassungslosen.

Katja Petrowskaja

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Die Autorin Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren. Nach dem Studium in Estland und Moskau zog sie 1999 nach Berlin und arbeitete als Journalistin für diverse Medien. 2013 bekam sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Auszug aus ihrem Werk «Vielleicht Esther». Darin erzählt sie von den Schicksalen ihrer Vorfahren in den beiden Weltkriegen.

SRF: Heute ist der zweite Tag seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. In welchem Zustand sind Sie?

Katja Petrowskaja: Mein Zustand interessiert mich nicht, sondern die 40 Millionen Menschen, die jetzt in der freien Ukraine angegriffen werden. Das ist wirklich unfassbar. Es gab keinen Grund für diesen Krieg. Es gibt nur einen kranken Diktator. Es ist alles so absurd.

Es gab Anzeichen, dass dieser Krieg kommen könnte. Dennoch sind viele sehr überrascht. Haben Sie das kommen sehen?

Es ist tatsächlich so unfassbar, dass man immer noch nicht richtig daran glauben kann. Meine Mutter, ein Kriegskind, sitzt jetzt in einem Luftschutzkeller wie tausende Menschen in Kiew. Es ist so unfassbar, dass ich Ihnen überhaupt nicht sagen darf, dass man sich so etwas vorstellen konnte.

Hauptsache ist, dass die Nato sofort Hilfe leistet.

Viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die im Exil leben, sind auf Social Media aktiv und fordern die Welt dazu auf, sich jetzt solidarisch zu zeigen. Haben solche Solidaritätsbekundungen einen Sinn in dieser Kriegssituation?

Facebook ist immer eine Art Ersatz-Aktivität. Doch jetzt muss man versuchen, alles Mögliche zu machen, vor allem, Forderungen an die eigene Regierung zu stellen: Jetzt ist es wichtig, alle Importe von russischem Öl und Gas zu stoppen und Russland aus dem SWIFT-System auszuschliessen.

Hauptsache ist, dass die Nato sofort Hilfe leistet. Ich bin keine militärische Expertin, aber wenn jetzt der Luftraum über der Ukraine geschlossen wird, können die russischen Raketen nicht mehr auf Kiew und andere Städte fallen.

Wenn jetzt nichts gemacht wird, werden wir alle schuld sein an diesem Verbrechen.

Ich telefoniere ständig mit meinen Freunden, die in Kiew sind. Manche sind im Luftschutzkeller, alle zusammen, Katzen, Kinder, alte Leute – es ist wirklich unglaublich. Es kann sein, dass die Stadt bald von der russischen Armee erobert wird. Wenn jetzt nichts gemacht wird, werden wir alle schuld sein an diesem Verbrechen.

Sie haben sich in Ihrem Buch «Vielleicht Esther» mit den beiden Weltkriegen beschäftigt, ausgehend von den Schicksalen Ihrer jüdischen Vorfahren. Kann man von der Auseinandersetzung mit vergangenen Kriegen etwas für die Gegenwart lernen?

Ich dachte schon. Aber wenn man jetzt über diese deutsche Appeasement-Politik in Bezug auf Putin nachdenkt und gleichzeitig diese wohltemperierte Erinnerungskultur sieht – wie kommt das zusammen? Ich weiss es nicht.  Ich bin froh, dass mein Vater das nicht erlebt.

Jede Stimme für die Ukraine ist eine Stimme für europäische Werte.

Ihr Buch erschien 2014, als Russland die Krim annektierte. Damals fragte Sie eine Kollegin der SRF-Literaturredaktion, ob Sie einen Dritten Weltkrieg fürchten. Sie haben das verneint. Was sagen Sie heute?

Heute kann ich sagen: Er ist da. Ob wir das glauben möchten oder nicht. Man hat aus Geschichtsbüchern gelernt, dass die Art von Herrschaft, wie Putin sie betreibt, komplett irrational ist. Ihm ist es egal, ob er die Welt in die Luft sprengt oder nicht.

Noch vor acht Jahren hatten alle diese Militärexperten gesagt, wir nehmen die Ukraine nicht in die Nato auf, sonst besteht die Gefahr eines grösseren Kriegs. Und was haben wir jetzt?

Ich kann nur sagen: Die Ukraine braucht Hilfe, je schneller, desto besser. Jede Stimme für die Ukraine ist eine Stimme für europäische Werte.

Das Gespräch führte Irene Grüter.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 25.02.2022, 17:20 ; 

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