Tanja Maljartschuk schläft nicht gut in letzter Zeit. Zwar lebt die ukrainische Schriftstellerin schon seit elf Jahren in Wien, in das sie seinerzeit der Liebe wegen gezogen ist. Aber ihre Heimat lässt sie nicht los, auch in ihren Träumen nicht, und erst recht nicht im Alltag.
«Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, schaue ich als Erstes auf die Internetseite des ORF», erzählt sie. Dann klicke sie sich durch diverse ukrainische Nachrichtenportale, um dann erleichtert zu denken: «Okay, wieder eine Nacht, die friedlich vergangen ist, Putin ist noch nicht einmarschiert.» Erst dann könne sie in Ruhe an ihrem neuen Buch weiterarbeiten.
Leidgeprüftes «Bloodland»
In ihren Romanen und Erzählungen hat sich Maljartschuk immer wieder mit den ukrainischen Melancholien auseinandergesetzt, mit Geschichte und Gegenwart dieses leidgeprüften Landes zwischen Karpaten und Schwarzem Meer.
Die Ukraine, in den sogenannten Bloodlands gelegen, wurde im letzten Jahrhundert immer wieder von Katastrophen heimgesucht. Das reicht von den Schlachten des Ersten Weltkriegs über die Hungerepidemien der 1930er-Jahre mit Millionen Toten bis hin zum Völkermord an den ukrainischen Jüdinnen und Juden während der deutschen Besatzung.
«Wir haben in unserer Geschichte drei, vier Revolutionen gehabt. Alle haben nichts gebracht», stellt die Autorin mit einem traurigen Lächeln fest. Nun kommt die militärische Bedrohung durch die Putin'sche Autokratie dazu.
«Ein Krieg wäre eine ungeheure Katastrophe»
«Wir können uns gar nicht vorstellen, was für eine ungeheure Katastrophe ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine wäre», so Maljartschuk. Man müsse mit hunderttausenden Toten rechnen. Dazu kämen Millionen Flüchtlinge, die in Richtung Westen aufbrechen würden.
Noch kann sich Maljartschuk nicht vorstellen, dass es wirklich dazu kommt. Sie rechnet allerdings mit allem: «Wer weiss schon, was in Putins Kopf vor sich geht? Einige Verrückte in seinem Beraterstab philosophieren bereits über einen begrenzten Atomschlag.»
65 Prozent wollen EU-Beitritt
Es gibt allerdings auch Faktoren, die ihr Hoffnung machen, zum Beispiel ihre Landsleute: «Die Menschen in der Ukraine sind zum Widerstand bereit. Und sie waren noch nie so prowestlich eingestellt wie heute.»
Mit der Invasion der Krim habe Putin auch bei den meisten Russischsprachigen in der Ukraine Sympathien verloren, sagt die Autorin. Die Umfragen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache: 65 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer treten für einen sofortigen Beitritt ihres Landes zur EU ein. Ein Wunsch, der im Moment noch reine Utopie bleiben muss.
Maljartschuk verteidigt das Recht ihres Landes auf Selbstbestimmung. «Es ist verrückt, dass man im Jahr 2022 noch darüber diskutieren muss, ob die Ukraine das Recht hat, unabhängig zu sein.» Selbstverständlich habe das 40-Millionen-Land dieses Recht. Zumal sich beim Unabhängigkeits-Referendum von 1991 mehr als 90 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer für die Selbstständigkeit ausgesprochen haben, darunter auch ein Grossteil der russischsprachigen Bevölkerung.
Galgenhumor als Gegenmittel
Hoffnung gibt Maljartschuk auch, dass ihre Landsleute ihren Humor nicht verloren haben. Vor Kurzem habe sie im ukrainischen Fernsehen eine Reportage gesehen. Darin sei es um die Bunker aus der Zeit des Kalten Kriegs gegangen, die jetzt wieder in Betrieb genommen werden. In einem davon, in Kiew, sei inzwischen ein Striptease-Lokal untergebracht.
«Als der Reporter den Betreiber des Lokals gefragt hat, ob er bereit sei, Schutzsuchende in seinem Lokal aufzunehmen, hat der gesagt: ‹Selbstverständlich. Wir werden auch Programm dazu machen.›» Das habe sie lustig gefunden, erzählt die Autorin.
Zwar dürften ambitionierte Striptease-Nummern kaum ausreichen, um Wladimir Putin von einem Einmarsch in die Ukraine abzuhalten. Aber vielleicht wäre ein Anfang gemacht, wenn man gemeinsam über Witze wie diesen lachen könnte.