Über 100 Tage sind seit der Explosion in Beirut vergangen. Rund 200 Menschen kamen dabei ums Leben. Tausende wurden verletzt, als im Hafen von Beirut ein Lager mit 2750 Tonnen Ammonium Nitrat explodierte. Die Bilder gingen um die ganze Welt. Doch nachdem sich der Staub gelegt hat, zogen die Medien wieder ab.
Wie funktioniert der Alltag nach der Explosion? Welche Konsequenzen ziehen die Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Unglück? Hat die Explosion auch politische Folgen? Fünf Menschen erzählen.
Fadi Haddad, Arzt im Spital Hôtel-Dieu de France
«Niemand kann sich vorstellen, was in jener Nacht passiert ist. Die Notaufnahme in unserem Krankenhaus ist gross – trotzdem lagen die Verletzten am Boden. Wir haben etwa 700 Patienten behandelt. Um drei Uhr morgens sind uns die Tetanus-Spritzen ausgegangen.
Die Situation der Krankenhäuser in Beirut war schon vorher schwierig, die Explosion machte sie schlimmer. Ein Beispiel: Die teuren Medikamente, etwa gegen Tuberkulose, waren in einem Lager direkt neben dem Hafen. Ein Grossteil dieser Medikamente wurde zerstört. Vor allem Krebspatienten werden deshalb längerfristig ein Problem haben.
Wenn wir nicht bald umfassende internationale Hilfe erhalten, werden wir triagieren müssen: Über 75-Jährige kommen nicht auf die Intensivstation, über 75-jährige Krebspatienten werden nicht mehr behandelt. Irgendwann trifft es die über 70-Jährigen, dann über 65-Jährige. Was in den kommenden Monaten passiert, wird viel gefährlicher sein, als das, was wir in jener Nacht erlebt haben.»
Rana Al Dirani, Gründerin des Restaurants «Em Nazih» und der Sprachschule «Saifi Institute»
«Mein ganzes Leben spielte sich in zwei Strassen ab, in den Vierteln Mar Mikhail und Gemmayze. Ich hatte viel investiert hier: in das Saifi Institute, das ich gegründet habe. In die Leute, die mit uns arbeiten und in meine Wohnung. Saifi war ein Ort für alle möglichen Leute, für alle Nationalitäten. Wie ein Bahnhof, an dem alle migrierenden Leute anhielten. Die Explosion hat alles zerstört: Mein Haus, mein Auto, meine Arbeit, mein Leben – alles ist weg.
Ich brauche 25'000 Dollar in bar, um Fenster und Türen des Instituts zu ersetzen. Woher soll ich das nehmen? Von der Bank? Die Banken haben unser Geld gestohlen. Ich war so dumm, den Banken und der Regierung zu vertrauen. Ich bin normalerweise ein positiver Mensch. Aber nach der Explosion habe ich alle Hoffnung verloren.»
Mark Hayek, studierte Philosophie und war bei der Revolution vom 17. Oktober 2019 aktiv
«Wir haben schon zu Beginn der Aufstände vor einem Jahr davor gewarnt, dass eine Finanzkrise droht, wenn sich die Geldpolitik nicht ändert. Wir dachten, es gibt einen Wandel. Diskutieren darüber, wohin das Land steuern soll. Das Problem ist: Wir dachten, wir wären die Mehrheit. Aber es gibt viele Leute, die noch immer den politischen Parteien aus dem Bürgerkrieg treu folgen.
Die politischen Führer sind frühere Warlords, die sich selbst Legitimität verliehen nach dem Bürgerkrieg. Wir wissen alle, dass es Korruption gibt. Wir spüren es im Alltag, in der Schule, bei der Arbeit. Die Explosion hat gezeigt, dass die Menschen, die hier leben, keine Rolle spielen für die Führung unseres Landes.»
Sonia Aoudeh, Anwohnerin des Karantina-Viertels neben dem Hafen
«Wir sassen auf der Terrasse. Dann hörten wir ein Geräusch, wie Feuerwerk. «Lass uns die Kinder reinbringen», sagte ich zu meiner Tochter, «Bevor etwas in die Luft fliegt.» Wir gingen ins Schlafzimmer meiner Mutter, wo wir uns während des Kriegs immer versteckt hatten. Dann hörten wir ein Geräusch, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Unser Haus bebte. Scheiben, Möbel, Vitrinen, das Aluminium der Fensterrahmen fielen auf uns.
Wir haben den Krieg erlebt. Doch während des Kriegs weisst du, wenn der Feind dich angreift. Diese Explosion war kein Angriff. Wer hat uns umgebracht? Unser Staat. Egal, wer die Explosion ausgelöst hat – unser Staat ist verantwortlich dafür, dass dieses Material am Hafen, inmitten der Menschen, gelagert war.»
Omar Abi Azar, Theater-Regisseur und Mitgründer des Theaterkollektivs «Zoukak»
«Wir haben in der Illusion gelebt, dass es dem Libanon gut geht. Das ist heute ganz anders. Wir sind in einer Kriegssituation. Wir müssen uns eingestehen: Alles ist zerstört.
Im Gebiet, das zerstört wurde, lebten Künstler, standen Theater und Galerien. Die Kultur wurde schwer beschädigt durch die Explosion. Doch wir machen weiter. Das Theater ist ein Ort, an dem sich alle treffen können. Ich will die Leute zusammenbringen, mich vor sie setzen und mit ihnen zusammen nachdenken. Was bedeutet es, zusammen zu sein? Was verbindet uns und was trennt uns?
Innerhalb des Theaters versuchen wir zu zeigen, dass alle, die hier arbeiten, dazu gehören. Die Organisatoren, die Techniker – sie alle haben einen Platz in unserer Gemeinschaft. Nicht nur die Schauspielerin oder der Regisseur, nein, wir sind alle eine Gemeinschaft und eine Wirtschaft. Das ist die Gesellschaft, die ich im Libanon von morgen sehen will.»