«Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie hier sind», sagt Mark Burkhard, der Kommandant der Polizei Basel-Landschaft an diesem Oktobermorgen 2020. Vor ihm sitzen vier junge Männer und zwei junge Frauen, die ihre zweijährige Polizeiausbildung antreten. «Wir sind dringend auf Nachwuchs angewiesen.»
Dass es zu wenig Bewerbungen gebe, sei nicht das Problem, sagt Burkhard auf Nachfrage. Aber der grösste Teil der Bewerberinnen und Bewerber brächten die nötigen Qualifikationen nicht mit. Was immer wieder auffalle: die schlechten schriftlichen Deutschkenntnisse.
Vorbilder in der Familie
Jana Stierli hat das mehrstufige Selektionsverfahren überstanden. Die 21-Jährige ist diplomierte Pflegefachfrau und wusste schon als Kind, dass sie zur Polizei wollte. Zwei ihrer Onkel arbeiten nämlich dort, einer davon ist ihr Patenonkel. «Man weiss am Morgen nie, was einen erwartet», schildert sie ihre Faszination für den Beruf, «kein Tag ist wie der andere».
Abwechslung und stets neue Herausforderungen sucht auch der 24-jährige Nando Wüthrich. Er habe gemerkt, dass er in seinem alten Beruf auf Dauer nicht glücklich werde. Er hat eine kaufmännische Lehre gemacht und danach im Event-Management gearbeitet. Ebenfalls eine Rolle spielen mag die familiäre Konstellation: Sein Vater ist bei der Kantonspolizei Basel-Stadt.
«Es ist nicht einfach»
Inzwischen haben Jana Stierli und Nando Wüthrich ihre Ausbildung abgeschlossen und gehören zum Korps der Polizei Basel-Landschaft. Dass in jeder Hinsicht geeignete Leute wie die Beiden sich für eine Laufbahn in Uniform entschliessen, wird immer seltener. Viele Polizeikorps haben Nachwuchsprobleme, das ist kein Geheimnis.
Kommandant Mark Burkhard erklärt sich das so: «Es gibt andere Firmen, die auch interessante Tätigkeiten anbieten – wir sind also in einer Konkurrenzsituation.»
Ich habe sicher Respekt vor der Sicherheit.
Ausserdem zeige die Medienberichterstattung immer wieder, dass der Beruf «anspruchsvoll» sei: «Wenn es beispielsweise Gewalt und Drohungen gegen Polizeibeamte gibt.» Oder wenn es grosse Einsätze gebe, bei denen die Polizei kritisiert werde. «Es ist nicht einfach.»
Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten
Mark Burkhard ist nicht nur Kommandant der Polizei Basel-Landschaft, sondern auch der Präsident der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten der Schweiz, kurz KKPKS. Somit ist Burkhard der höchste Polizist der Schweiz.
Er spricht einen nationalen Trend an, der in den vergangenen zehn Jahren so deutlich geworden ist, dass er sich nicht mehr wegdiskutieren lässt: Polizistinnen und Polizisten werden immer häufiger verbal oder physisch attackiert.
Vor zehn Jahren registrierte das Bundesamt für Statistik (BFS) noch rund 2200 solche Fälle. 2021 waren es dann schon mehr als 3000 Fälle von Beamten, die tätlich angegriffen oder bedroht wurden. Das entspricht einer Zunahme von 40 Prozent.
Ordnungsdienst beim Hochrisikospiel
«Die Gesellschaft hat sich sehr verändert», stellt auch Andrea Stierli, Jana Stierlis Mutter, fest. Darum habe sie «Respekt» vor dem, was ihre Tochter tut. Beim Polizeikorps Basel-Landschaft sind in diesem Zusammenhang neben der täglichen Arbeit vor allem auch die Spiele des FC Basel ein grosses Thema.
Polizistinnen wie Jana Stierli werden im Rahmen des sogenannten «Ordnungsdienstes» regelmässig beigezogen, um ihre Kolleginnen und Kollegen von der Kantonspolizei Basel-Stadt zu unterstützen.
Vor rund zwei Wochen eskalierte die Situation wieder einmal: beim Spiel des FC Basel gegen die Berner Young Boys. Mitarbeitende der Sicherheitsfirma des Stadionbetreibers wurden attackiert. «Der FCB kann und will jegliche Art von Gewalt nicht hinnehmen und tolerieren», liess sich FC-Basel-Präsident David Degen danach in einer Mitteilung zitieren.
Fliegende Pflastersteine
Tatsache ist: Hochrisikospiele gehören seit Jahren zum Alltag der Polizei Basel-Landschaft. Vor allem bei Partien zwischen dem FC Basel und den beiden Zürcher Clubs, dem FCZ und GC, kommt es immer wieder zu Gewalt.
Man muss damit umgehen können, dass man nicht bei allen beliebt ist.
Wenn es rund um das Stadion friedlich bleibt, bleibt immer noch der sogenannte Fanzug, um Randale zu veranstalten – etwa indem beim Bahnhof Pratteln im Kanton Basel-Landschaft die Notbremse gezogen wird.
Die Polizistinnen und Polizisten werden mit Blaulicht vor Ort gefahren, steigen in Vollmontur aus einem Kastenwagen – und hoffen, dass der Zug ungebremst nach Zürich weiterfährt und ihnen keine Pflastersteine entgegenfliegen.
«Respekt vor der Sicherheit»
Auf solche Situationen sollen Jana Stierli und Nando Wüthrich an der Interkantonalen Polizeischule Hitzkirch, kurz IPH, vorbereitet werden – etwa durch Selbstverteidigungs-Techniken. Sie lernen aber auch den Umgang mit der Dienstwaffe: Laden und Entladen – immer wieder. Die Handgriffe sollen durch ständige Wiederholung zum Automatismus werden.
Daneben gibt es viel Theorie: von der Bundesverfassung über das Strafgesetzbuch bis zur Psychologie. Denn die ist oft zentral, um brenzlige Situationen zu entschärfen. Aber wahr ist auch: Im Einsatz lässt sich nicht immer alles mit Worten lösen, das soll den angehenden Polizistinnen und Polizisten klar sein.
«Ich habe sicher Respekt vor der Sicherheit», sagt Jana Stierli während der Ausbildung. «Aber ich kann noch nicht beurteilen, was mich erwartet, weil ich alles erst aus der Theorie kenne.»
Polizei abschaffen?
Für gewisse Menschen werden Jana Stierli und Nando Wüthrich zu Reizfiguren, weil sie eine Polizei-Uniform tragen. Nando Wüthrich sagt dazu: «Man muss damit umgehen können, dass man nicht bei allen beliebt ist. Aber so wie ich es wahrnehme, ist es beim grössten Teil der Gesellschaft sehr akzeptiert und als notwendig angesehen, dass es die Polizei gibt.»
Tatsächlich sehen es nur wenige anders. Etwas die Juso Schweiz. Im Februar 2023 haben sie sich in Bern zur Jahresversammlung getroffen und zum Angriff auf die Polizei geblasen. «Die Polizei ist eine rassistische Institution», heisst es in einem Juso-Positionspapier zum Thema Antirassismus. Darum gehöre sie längerfristig abgeschafft.
«Das ist Humbug», sagte sogar SP-Co-Chefin Mattea Meyer dazu dem «Blick». Und Co-Präsident Cédric Wermuth ergänzte: «Polizistinnen und Polizisten pauschal zu verurteilen, bringt überhaupt nichts.»
Vom Schlimmsten ausgehen
Polizistinnen und Polizisten stehen unter dauernder Beobachtung. Das wird ihnen schon am ersten Tag an der Polizeischule in Hitzkirch eingetrichtert. Jede und jeder hat heute ein Mobiltelefon und kann Einsätze mitfilmen.
Es braucht wenig, um den Inhalt zu manipulieren. Es reicht, alles wegzulassen, was einer Eskalation vorausgegangen ist – und schon entsteht der Eindruck, die Polizei überreagiere immer sofort.
Der grösste Teil der Einsätze ist Routine: Auffahrunfälle, Ladendiebstähle, Nachbarschaftsstreitigkeiten. Aber jeder Fall hat das Potenzial, sich unerwartet zu entwickeln. Zieht der wütende Nachbar plötzlich eine Waffe? Immer vom Schlimmsten ausgehen, auch wenn das nur selten eintritt, lernen Jana Stierli und Nando Wüthrich.
Ernstfall häusliche Gewalt
Reale Einsätze sind noch weit weg während des ersten Ausbildungsjahres in Hitzkirch. Dort geht es darum, Theorie und Praxis zusammenzuführen. Zum Beispiel beim Stichwort häusliche Gewalt.
Rund 20'000 Fälle gibt es in der Schweiz pro Jahr. In Rollenspielen mit verschiedenen Szenarien werden die angehenden Polizistinnen und Polizisten langsam auf diese Realität vorbereitet.
Wie verschafft man sich Zutritt zu einer Wohnung, wenn der Verdacht auf häusliche Gewalt besteht? Wie müssen die Involvierten befragt werden? Welche Formulare sind auszufüllen? Und wie ist zu reagieren, wenn der Ehemann immer aggressiver wird?
Plötzlich ein Notruf
Das zweite Ausbildungsjahr findet im Korps statt. Das theoretische Wissen wird nun jeden Tag in der Praxis angewendet. Auf Streife mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen. Für Jana Stierli und Nando Wüthrich beginnt damit definitiv der Ernst des Polizeialltags.
Dieser Alltag kann dann so aussehen: Ein ruhiger Samstag, der Vormittag verläuft unspektakulär. Dann plötzlich ein Notruf: Ein älterer Herr sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und droht mit einem Suizid. Der Mann besitze mehrere Waffen. Jana Stierli schaltet das Blaulicht ein. Jede Sekunde zählt – es geht um Leben und Tod.
Noch bevor sie eintrifft, kommt die Entwarnung per Funk. Der Mann wurde arretiert, die Katastrophe ist abgewendet. Das Schlimmste ist an diesem Samstag nicht eingetroffen.