Raffael Guggenheim warnt mich schon am Telefon. Er habe seinen Sohn beschneiden lassen, habe aber durchaus kritische Fragen zur gängigen Praxis. Der Kinderarzt lädt mich für unser Gespräch zu sich nach Hause ein – zwischen Terminen in seiner Praxis und der Sprechstunde für Schreibabys am Stadtspital Zürich.
Raffael Guggenheim bezeichnet sich als modern-orthodoxen Juden. Er hält sich also an die jüdischen Gebote, isst etwa koscher, begeht den Sabbat und nimmt gleichzeitig Teil an der modernen Gesellschaft.
Als vor rund 20 Jahren sein Sohn auf die Welt kam, war für ihn und seine Frau klar: Der Knabe wird am achten Tag nach der Geburt von einem sogenannten «Mohel» beschnitten, wie das in der Thora vorgeschrieben und für die grosse Mehrheit der Jüdinnen und Juden noch immer selbstverständlich ist.
«Wir waren damals noch sehr jung und fühlten uns der Tradition ohne Wenn und Aber verpflichtet», erzählt Raffael Guggenheim. Dann deutet er an, dass die Beschneidung keine einfache Erfahrung war, auch für seine Frau. «Sie war froh, dass wir danach nur noch Mädchen kriegten und sie sich nicht erneut mit dem Thema befassen musste.»
Den Schmerz ernst nehmen
Denn, so sagt Raffael Guggenheim unumwunden: «Die Babys haben bei der Beschneidung Schmerzen. Das gilt es anzuerkennen.» Hier setzt auch die Kritik des Kinderarztes an: «Ich wünschte mir mehr Sensibilität für den Schmerz, den die Kinder erleiden.»
Mit diesem Schmerz seien die Eltern und die Mohalim, die jüdischen Beschneider oft überfordert, eine aus seiner Sicht adäquate Schmerztherapie durchzuführen. Eine Therapie, die mehr beinhaltet als Schmerzmittel zu geben.
Raffael Guggenheim ist sich bewusst, dass die Beschneidung die Buben verletzt und ihnen weh tut. Er kritisiert, wie beschnitten wird – nicht dass beschnitten wird. «Die ‹Brit Mila› bedeutet für mich Verbundenheit mit meiner Tradition und mit der jüdischen Gesellschaft.»
Brit heisst Bund. «Mit der Brit Mila beschneiden wir auch unser Ego und verpflichten uns unserer jüdischen Gesellschaft und deren Werten», so der Kinderarzt. Die Beschneidung ihrer Söhne sei ein Bekenntnis zum Judentum. Für die Söhne bedeute sie die Aufnahme in eine Gemeinschaft, sie steht für Zugehörigkeit.
«Die Frage ist also, wofür wir den Schmerz bei unseren Kindern in Kauf nehmen, ob es sich lohnt», sagt Raffael Guggenheim. Und er sage eben: «Ja, für diese Zugehörigkeit lohnt es sich.»
Es geht auch ohne
Gegnerinnen und Gegner der Beschneidung widersprechen. Sie kritisieren, dass kleinen Buben am Penis die Vorhaut abgeschnitten wird, ohne dass sie sich dazu äussern können, und sprechen von Körperverletzung.
Auch Ruth O. würde Raffael Guggenheims Aussage nicht unterschreiben: «Jüdisch sein, die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft, das geht auch ohne Beschneidung.» Ruth ist ein Pseudonym. Die liberale Jüdin hat darum gebeten, ihren echten Namen nicht zu nennen.
«Meine Söhne sind froh»
Die Mutter von drei Söhnen sagt: «Für uns war von Anfang an klar: Unsere Kinder werden nicht beschnitten.» Darüber habe sie weder mit ihrem nicht-jüdischen Mann noch mit ihrer jüdischen Familie diskutiert: «Ich wollte meine Söhne unversehrt lassen. Sie sind gut so, wie sie sind.»
Das sei keine Entscheidung gegen die jüdischen Traditionen gewesen. «Wir erziehen unsere Kinder jüdisch, wir feiern die jüdischen Feiertage – das ist auch möglich, wenn die Buben nicht beschnitten sind.» Ruth O. betont: «Meine Söhne sind froh, dass wir sie nicht haben beschneiden lassen. Das haben sie mir im Vorfeld dieses Interviews bestätigt.»
Sie sei nicht grundsätzlich gegen die Beschneidung, stellt die liberale Jüdin klar. Doch sie wünscht sich mehr innerjüdische Diskussion.
Zeichen der Zugehörigkeit – auch im Islam
Und wie sehen dies muslimische Eltern? Um diese Frage zu klären, habe ich nach muslimischen Paaren gesucht, die mit mir über die Beschneidung reden würden. Ohne Erfolg. Zu heikel ist das Thema, zu schnell stehen Menschen, die sich äussern, in der Kritik – von Gegnern und Befürworterinnen.
Deshalb habe ich mich an Kaser Alasaad gewandt, den Imam der grössten muslimischen Gemeinschaft des Kantons Zürich in Volketswil. Er hat seinen Sohn beschneiden lassen – mit sieben Tagen und noch in Syrien, wo Kaser Alasaad geboren und aufgewachsen ist. «Es war ein wunderschöner Tag mit grossem Fest für Familie und Freunde», erinnert sich der Imam.
Für den Imam Kaser Alasaad ist klar: Die Beschneidung der Knaben gehört zum Islam. Ähnlich wie im Judentum sei sie ein Bekenntnis zur Gemeinschaft.
Zwar steht die Pflicht nicht im Koran, doch in der Sunna ist überliefert, dass der Prophet Mohammed beschnitten gewesen sein soll und auch seine Söhne habe beschneiden lassen. Für die meisten Musliminnen und Muslime sei die Beschneidung deshalb selbstverständlich, sagt der Imam.
Auf die Nachfrage, ob es auch Eltern gebe, die an der Praxis zweifelten, verneint der Imam. «Die Eltern fragen nach der religiösen Pflicht, dem Zeitpunkt, nach möglichen Ritualen. Oder sie möchten, dass ich für sie bete.»
Muslimische Kritik an der Beschneidung
Das erstaunt kaum: Kaser Alasaad ist Imam einer offenen, aber sehr traditionellen Moschee. Denn es gibt durchaus innermuslimische Kritik an der Knabenbeschneidung. Sie argumentiert religiös, dass Gott den Menschen laut Koran «perfekt» erschaffen habe. Dass man also nichts wegschneiden sollte, wenn nicht medizinisch nötig.
Ich stiess bei meinen Recherchen auch auf junge Männer, die davon berichten, dass ihr sexuelles Empfinden ohne Vorhaut nicht dasselbe sei wie bei Männern mit Vorhaut. Und sich fragen: Will ich das für mein Kind?
Aktivistischer Widerstand
Und dann gibt es den aktivistischen Widerstand – etwa durch den Verein prepuce.ch, in dem sich Männer organisieren, die unter den Folgen einer Beschneidung leiden. «Ich habe täglich Schmerzen, mal mehr, mal weniger», sagt prepuce-Co-Präsident Manasseh Seidenberg, der als kleines Kind beschnitten wurde.
Und sein Bruder Ephraim Seidenberg ergänzt: «Es wird einfach immer noch weiter gemacht, als wäre es das Normalste der Welt, hier in der Schweiz vor allem im klinischen Kontext als Fehlbehandlung. Wir wollen Kinder davor schützen, dass ihnen am intimsten Körperteil unnötig etwas abgeschnitten wird.»
Sind Veränderungen möglich?
Gibt es aufgrund dieser Stimmen Veränderungen innerhalb der religiösen jüdischen und muslimischen Gemeinschaften? In Israel beginne diese Diskussion gerade, sagt Ruth O. «Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, vor allem säkulare Jüdinnen und Juden, lassen ihre Söhne nicht beschneiden.» Die Mutter ist überzeugt: «Dies ist der Beginn einer Veränderung.»
Vor allem säkulare jüdische Eltern möchten von mir hören, dass die Beschneidung medizinische Vorteile habe.
Diese Veränderung hat auch mit einem Säkularisierungstrend in den jüdischen und muslimischen Gemeinschaften in Europa und in Israel zu tun. Einem Trend, sich von den religiösen Traditionen zu entfernen.
Das zeigt sich etwa bei den Hochzeiten: Die Hälfte aller jüdischen Menschen heiraten einen nicht-jüdischen Partner oder eine nicht-jüdische Partnerin. Immer mehr Muslime und Musliminnen heiraten Nicht-Muslime. Die Knabenbeschneidung wird da ganz neu diskutiert.
Tut's eine symbolische Beschneidung?
Das beobachtet auch Raffael Guggenheim in seiner Kinderarztpraxis. Er selbst führt keine Beschneidungen durch. Ihm ist es wichtig, den medizinischen und den religiösen Aspekt klar zu trennen.
Doch jüdische und muslimische Eltern von kleinen Patienten sprechen ihn auf die Beschneidung an. «Vor allem säkulare jüdische Eltern möchten von mir hören, dass die Beschneidung medizinische Vorteile habe. Ich muss ihnen dann mitteilen, dass die Beschneidung aus medizinischen Gründen bei einem Kind heutzutage nicht indiziert ist.»
Säkulare jüdische Eltern hätten also gern ein medizinische Begründung, denn die rein religiös-kulturelle Begründung reicht ihnen nicht mehr. Raffael Guggenheim berichtet offen über diese Entwicklung. Doch für ihn, den modern-orthodoxen Juden, gibt es bei einer Beschneidung keinen Spielraum.
Und was hält er von der Möglichkeit einer «Brit Shalom», einer symbolischen Beschneidung? Das Judentum sei eine Religion der Tat, entgegnet Guggenheim. «Eine symbolische Beschneidung kommt da nicht in Frage.»
Beschneidung erst im Erwachsenenalter?
Und was wäre, wenn die Beschneidung erst im Erwachsenenalter gemacht würde? Im Islam wäre das rein theoretisch möglich, bestätigt Imam Kaser Alasaad. Denn die Religion schreibt nicht vor, wann ein Knabe beschnitten werden soll.
Im Judentum ist das anders. Die Beschneidung muss am achten Tag nach der Geburt geschehen. Wenn dies nicht möglich ist, weil das Kind etwa krank oder zu schwach ist, besteht für den Vater die Pflicht, den Sohn später beschneiden zu lassen. Erst mit der religiösen Mündigkeit, mit 13 Jahren, wird die Pflicht auf den Jungen übertragen.
Ausnahme ja, Regel nein
Ein Schlupfloch also? Nein, findet Raffael Guggenheim auch hier. «Natürlich versuchen wir, als Gesellschaft die Beschneidung zu verbessern. Deshalb auch mein Einsatz für einen besseren Umgang mit den Schmerzen.» Aber das biblische Gebot sei klar, die Ausnahme könne nicht zur Regel gemacht werden.
Die Beschneidung ist ein Marker, ein klares Zeichen, dass ein Knabe oder ein Mann zum Judentum gehört.
Ähnlich sieht dies auch Alfred Bodenheimer. Der Professor für Religionsgeschichte und jüdische Studien an der Universität Basel hat sich intensiv mit der Diskussion um die Knabenbeschneidung beschäftigt und das Büchlein «Haut ab!» geschrieben.
Anlass war ein Gerichtsurteil am Kölner Landesgericht 2012, das die Knabenbeschneidung als Körperverletzung bezeichnete. Ein Schock für viele Jüdinnen und Juden in Deutschland – und auch in der Schweiz.
Kritik an Beschneidung historisch vorbelastet
Alfred Bodenheimer kritisiert, dass in der damaligen Debatte zu wenig beachtet wurde, dass die Ablehnung der Beschneidung im Laufe der Geschichte oft mit Antisemitismus verbunden gewesen sei, mit dem Versuch, die Jüdinnen und Juden zu vertreiben. Auch heute noch schwingen antisemitische Vorurteile, wie etwa das Bild vom grausamen Juden, bei der Kritik mit.
Das kommt nicht von ungefähr, erklärt Alfred Bodenheimer: «Die Beschneidung ist ein Marker, ein klares Zeichen, dass ein Knabe oder ein Mann zum Judentum gehört – und damit anders ist als nicht-jüdische Männer.»
Dieses Anderssein war für das Judentum lange Zeit überlebensnotwendig. «Das Judentum ist eine defensive Religion. Jüdinnen und Juden lebten mehrheitlich in der Diaspora, in Gesellschaften, in denen sie in der Minderheit waren.»
Hätten sich die Jüdinnen und Juden an die Mehrheitsgesellschaft angepasst, wäre das Judentum verschwunden, sagt Alfred Bodenheimer. Das Anderssein bot aber eben auch Angriffsfläche für Ausgrenzung und Verfolgung.
Die Zukunft wird's weisen
Auch heute noch ist die Brit Mila auch ein Bekenntnis zu dieser Geschichte. Und die antisemitische Kritik von früher schwingt für Jüdinnen und Juden bei der heutigen Kritik an der Beschneidung meist mit, vor allem, wenn sie von ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft kommt.
Innerhalb der Familien gibt es aber immer wieder Diskussionen. Für Raffael Guggenheim ist klar: «Ich würde auch heute eine Brit Mila mit entsprechender Einfühlsamkeit und Schmerztherapie durchführen lassen. Andere jüdische Menschen dürfen dies bezüglich ihrer eigenen Kinder selbst entscheiden – wir leben in einer weltoffenen Gesellschaft!»