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Menschenmenge schwenkt türkische Fahnen.
Legende: Seit dem Puschversuch vom Juli 2016 wird die Gesinnungsfrage neu gestellt. Wer sich wehrt, macht sich verdächtig. Reuters

Bildung in Gefahr Türken sollen ein neues Denken lernen – Aufklärung ist out

Die türkische Führung unter Präsident Erdogan dreht das Rad der Zeit zurück: Wie einst in George Orwells Roman «1984» sollen die Türkinnen und Türken ein anderes Denken lernen.

  • Schon in den 1960er-Jahren kam es in der Türkei zu Putschversuchen und Verhaftungen; «kommunistische Gesinnung» war ein Vorwand für Repressionen
  • Heute sind vor allem Intellektuelle und Akademiker von «Säuberungsaktionen» betroffen.
  • Die Zahl der Arbeitslosen mit Uni-Abschluss stieg von rund 150‘000 im Jahr 2002 auf rund 750‘000 im Jahr 2015
  • Erdogans Regierung macht säkulare Errungenschaften rückgängig: Evolutionslehre darf nicht mehr unterrichtet werden.

Bildung war in der Türkei schon immer auch eine Frage der Gesinnung. Das zeigt eine Begebenheit aus dem Jahr 1964.

Die Türkei suchte damals den Anschluss an Europa. 1964 wurde ein Assoziationsvertrag mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschlossen, der Vorläuferin der EU. Europa war für die Türkei so etwas wie ein Bollwerk gegen den Kommunismus.

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Eine Revolutionsschrift in der Todeszelle
aus Kontext vom 13.02.2017. Bild: Colourbox
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Zweimal hat das Militär geputscht

Die Kategorie Islam spielte nur eine untergeordnete Rolle. Bei den innenpolitischen Wirren in der Türkei ging es im Wesentlichen um die Frage, ob die Türkei eine wirkliche, plurale Demokratie werden soll.

Der Kommunismus wurde von den nationalen Kräften als die grösste Gefahr gesehen. Zweimal hat das Militär geputscht, zweimal erfolglos. Beide Male, 1962 und 1963, steckte der gleiche Mann dahinter: Oberst Talat Aydemir.

Das falsche Buch gelesen

Oberst Talat Aydemir, eine schillernde Figur, wurde nach seinem letzten Putschversuch verhaftet, und am 5. Juli 1964 gehängt. Die Geschichte der Türkei war um einen Toten reicher.

Beim Aufräumen seiner Todeszelle nach der Hinrichtung fanden Beamte verdächtige Schriftstücke. Es waren die Revolutionsschriften eines François Babeuf.

François Babeuf war zu Zeiten der Französischen Revolution ein Journalist und linksrevolutionärer Aktivist. Er war Herausgeber und Autor der radikalen Zeitung «Le Tribun du Peuple».

Übersetzer am Pranger

Das Exemplar, das bei Oberst Aydemir gefunden wurde, hatten Vedat Günyol und Sabahattin Eyüboglu übersetzt und veröffentlicht. Beide bedeutende Intellektuelle und Übersetzer.

Daraufhin konfiszierte die Polizei in der ganzen Türkei alle übersetzten Exemplare von Schriften François Babeufs. Es kam zur Anklage gegen Günyol und Eyüboglu – mit dem Vorwurf der kommunistischen Propaganda.

Ein besonderes Vorkommnis: Übersetzer werden wegen ihrer Tätigkeit verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Der Prozess gegen die beiden Übersetzer dauerte von November 1964 bis Juni 1966 und endete mit einem Freispruch.

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Das Ende des europäischen Traums
aus Kontext vom 13.02.2017. Bild: Keystone
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Wer sich wehrt, macht sich verdächtig

Heute ist vor allem das Bildungsministerium von den Säuberungen, die seit dem Putschversuch vom Juli 2016 im Gange sind, betroffen. Über 40‘000 Lehrerinnen und Lehrer, Dozenten, Professorinnen wurden entlassen, suspendiert und verhaftet.

Die Gesinnungsfrage wird heute neu gestellt: Nicht die «kommunistische Gesinnung» ist Vorwand für die Repression, sondern wahlweise die Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung oder zu einer «terroristischen Vereinigung».

Wer sich wehrt, etwa mit der Friedenspetition, die von Hochschullehrern im Januar 2016 lanciert wurde, macht sich doppelt verdächtig.

An Atatürks Erbe wird gerüttelt

Gleichzeitig dreht die türkische Führung unter Präsident Erdogan das Rad der Zeit zurück. Schritt für Schritt werden die säkularen Errungenschaften von Staatsgründer Kemal Atatürk, die bisher weitgehend unhinterfragt geblieben waren, rückgängig gemacht.

Evolutionslehre von Charles Darwin darf nicht mehr gelehrt werden. Stattdessen gilt der obligatorische Religionsunterricht nun auch auf gymnasialer Stufe.

Keine Zukunft für Intellektuelle

Zudem werden die sogenannten Imam-Hatip-Schulen, die ursprünglich für die Ausbildung von Geistlichen gedacht waren, den allgemeinbildenden Schulen gleichgestellt. Seit 2002 ist die Schülerzahl an Imam-Hatip Schulen landesweit von 60‘000 auf über eine Million gestiegen.

Die Folgen sind gravierend. Die Zahl der Arbeitslosen mit Uni-Abschluss stieg von rund 150‘000 im Jahr 2002 auf rund 750‘000 im Jahr 2015. Immer mehr Intellektuelle und Akademiker sehen für sich selber nur einen Ausweg: auswandern, nach Europa.

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