Seit der Afroamerikaner George Floyd letzte Woche durch Polizeigewalt zu Tode kam, protestieren weltweit Menschen gegen Rassismus. Auch in der Schweiz – denn auch hier müssen tieferliegende rassistische Bilder aufgedeckt werden, sagt Sozialanthropologin Serena Dankwa.
SRF: In der Berichterstattung über die USA ist oft von strukturellem oder institutionellem Rassismus die Rede. Was heisst das?
Serena Dankwa: Von struktureller Diskriminierung redet man, wenn staatliche oder auch private Institutionen bestimmte Regeln und Prozesse aufweisen, die automatisch zu einer Diskriminierung bestimmter Menschengruppen führen. Etwa wenn die Polizei systematisch nach «people of color» Ausschau hält. Obwohl dies oft verneint wird, bei sogenannten Migrationskontrollen ist das sehr wohl der Fall.
Oft ist es bereits in den Gesetzen angelegt, dass Menschen aus dem Süden oder Osten benachteiligt sind, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder dem Wohnungsmarkt.
Dazu kommen die subtileren Mechanismen, zum Beispiel in der Schule: Was wird einem Kind zugetraut, was nicht? Welche Vorbilder haben die Kinder? Was lernen sie in den Kinderbüchern – und kommen sie da überhaupt vor?
Wie erleben schwarze Menschen in der Schweiz solch strukturellen Rassismus?
Das ist, als ob Sie fragen würden, wie erleben Frauen in der Schweiz Sexismus? Es gibt keine einheitliche Antwort. Es ist total unterschiedlich, je nachdem, welchen Aufenthaltsstatus die Menschen haben, ob sie die Sprache sprechen oder wie sie sozial aufgestellt sind.
Viele glauben, der Rassismus sei in den USA ein grosses Problem, hierzulande nicht unbedingt. Teilen Sie diese Ansicht?
Jedes Mal, wenn in den USA oder in Südafrika ein rassistischer Vorfall geschieht, wird diese Frage gestellt: «Gibt es in der Schweiz Rassismus?»
Diese Frage ermüdet mich. Ich finde, das darf einfach nicht mehr die Frage sein. Ja, natürlich gibt es das! Es sterben auch in der Schweiz Menschen in Polizeigewahrsam.
Diese Fälle gibt es immer wieder, aber das ist die Spitze des Eisbergs. Was dazu führt, sind nicht einzelne böse Polizistinnen und Polizisten, sondern die Bilder, die ganz tief in der Gesellschaft angelegt sind. Ich glaube, um Rassismus bekämpfen zu können, muss man ihn erst einmal anerkennen.
Wie kann man das erreichen?
Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Schweiz ihre Rolle in der Kolonialzeit anerkennt. Die Schweiz hat ökonomisch profitiert, sie war politisch beteiligt.
Um Rassismus zu bekämpfen, muss man ihn zuerst anerkennen.
Zweitens müssen Aktivistinnen und Aktivisten und betroffene Menschen ernst genommen werden und auch in den nötigen Positionen sein, etwa in den Medien oder der Politik. Die Schweiz hat ein grosses Problem mit Unterrepräsentation, das müsste sich dringend ändern.
Bewegt sich in dieser Hinsicht etwas in der Schweiz?
Ja, ich glaube schon, obwohl sehr langsam. Es hat sicher viel damit zu tun, dass schwarze Menschen, die schon längere Zeit in Europa leben, hier zur Schule gegangen sind, ein Selbstbewusstsein entwickeln, das sie sagen lässt: «Das kann nicht so weitergehen!»
Es muss in der Schweiz Räume geben, wo es möglich ist, als schwarze Person nicht immer die Aussenseiterin zu sein oder diejenige, die als die Fremde betrachtet wird.
Es muss auch in der Schweiz möglich sein, dass es eine Diaspora-Kultur gibt. Davor haben noch immer viele Menschen Angst: Dass etwas überhandnimmt, was als fremd betrachtet wird. Aber ich glaube, diese Stimmen lassen sich jetzt nicht mehr unterdrücken. Sie werden lauter.
Das Gespräch führte Katharina Brierley.