«Es ist aus höchster Not und Verzweiflung, in der ich mich an seine Exzellenz wende», schreibt Martin Wachskerz im Jahr 1942 in einem Brief an den Papst.
«Ich habe in letzter Zeit so viel Bitteres durchgemacht, dass ich nicht mehr weiter kann. Ich bin am Ende meiner Kraft.»
Martin Wachskerz steht an der Schweizer Grenze. Er hat bereits eine lange Flucht hinter sich. Von Berlin über Polen und Belgien nach Frankreich. Doch auch in Frankreich werden die Jüdinnen und Juden verfolgt.
«Haben Sie Erbarmen»
«Ein Schöpfer im Himmel weiss, in welcher Gefahr wir sind. Jede Minute», schreibt Martin Wachskerz. Und fleht: «Seine Hochwürden, bitte helfen Sie so schnell wie möglich. Retten Sie uns. Haben Sie erbarmen.»
Der Papst solle doch bitte bei Schweizer Fremdenpolizei intervenieren. Die Schweizer Behörden haben zuvor Martin Wachskerz’ Gesuch zur Einreise abgelehnt.
Tatsächlich sucht der päpstliche Botschafter in der Schweiz das Gespräch – ohne Erfolg. Martin Wachskerz und seine Familie erhalten kein Visum.
Was danach mit der Familie geschieht, will Kirchenhistoriker Hubert Wolf, Professor an der Universität Münster, nun erforschen.
Zeugnisse der Verfolgten
Er rechnet damit, dass neben dem von ihm gefundenen Schrifttstück von Martin Wachskerz bis zu 20'000 solcher Briefe in den Archiven liegen. «Diese Bittschriften bringen Menschen, deren Gedächtnis die Nazis auslöschen wollten, wieder in den Blick und geben ihnen eine Stimme.»
Die Briefe sind Zeugnisse von verfolgten Menschen. Ihre Geschichten sind berührend und deshalb besonders wertvoll.
Davon ist Hubert Wolf überzeugt: «Die Geschichten animieren auch heute noch zum Nachdenken. Wissenschaftlich aufbereitet können sie als Grundlage dienen für eine Anti-Antisemitismuserziehung.»
Hubert Wolf denkt auch an muslimische Jugendliche. «Sie haben oft einen Migrationshintergrund, bringen den aber nie mit jüdischen Verfolgungsgeschichten in Verbindung.» Geschichten wie jene von Martin Wachskerz könnten hier eine Brücke bauen.
Ein Papst, der polarisiert
Die Bittschriften zeigen darüber hinaus, wie der Vatikan mit der Verfolgung der Jüdinnen und Juden umgegangen ist. Eine besonders spannende Frage.
Die Rolle des Vatikans, insbesondere die des damaligen Oberhauptes Papst Pius XII. im zweiten Weltkrieg, ist nämlich höchst umstritten: Für die einen ist Papst Pius XII. der Retter der Juden. Die anderen sehen ihn als Papst Hitlers.
«Wir finden in den Quellen Menschen im Vatikan, die den Jüdinnen und Juden unbedingt helfen wollten. Andere waren der Ansicht, der Vatikan beschäftige sich viel zu sehr mit den Juden», sagt Hubert Wolf.
Es geht nicht nur um den Papst
«Es gab in der Kurie also dezidierte Antisemiten, es gab aber auch dezidierte Judenfreunde.» Somit widerspiegle der Vatikan die ganze Bandbreite der römisch-katholischen Kirche.
Deshalb kommt Hubert Wolf zum Schluss: «Die Konzentration der Forschung auf den Papst greift zu kurz.»
Um die Rolle des Vatikans im Zweiten Weltkrieg beurteilen zu können, müsse die vatikanische Verwaltung und die unteren Entscheidungsebenen genauer untersucht werden. Material gebe es dafür in den neu geöffneten Archiven mehr als genug.