Algerien wird meist als ein sehr verschlossenes Land wahrgenommen. Trifft das tatsächlich zu?
Boualem Sansal: Genauso ist es. Doch diese Verschlossenheit geht auf die 1960er-Jahre zurück – genau auf den 19. Juni 1965. Damals fand ein Armeeputsch statt. Zuvor war Algerien ein sehr offenes Land.
Was geschah im Juni 1965?
Houari Boumèdienne ergriff die Macht. Er setzte sofort durch, dass die Politik der Offenheit seines Vorgängers beendet wurde. Mit einem Mal wurde Algerien zu einer Art Kaserne. Alles war geheim, alles verschlossen.
Die erste Entscheidung, die Boumèdienne traf, war ein Reiseverbot für Algerier und ein Verbot für Ausländer, das Land zu bereisen. Seit mehr als 50 Jahren ist diese Politik mit leichten Schwankungen beibehalten worden.
Fühlen sich die Algerier auch heute noch in ihrem Land eingeschlossen?
Natürlich haben viele Algerier Lust zu reisen und andere Menschen, andere Länder kennenzulernen. Bei den Islamisten und den Ultranationalisten ist das allerdings anders: Sie unterstützen die Politik der Abschottung. Manche von ihnen wollen nicht einmal andere Araber kennenlernen. Daneben gibt es aber weltoffene und demokratisch gesinnte Menschen in Algerien, die sehr gerne Europäern begegnen und mit ihnen diskutieren möchten.
Wie erlebten Sie die momentane algerische Gesellschaft?
Algerien ist eine blockierte Gesellschaft. Nach der Unabhängigkeit 1962 standen die Algerier vor der Wahl, sich für ein Gesellschaftsmodell zu entscheiden. Sie haben das nicht geschafft, weil die algerische Gesellschaft tief gespalten war.
Wo gingen die Gräben lang?
Die einen sagten: Wir haben einen Befreiungskrieg geführt, um die islamische Erde Algeriens von christlicher Herrschaft zu befreien. Sie blickten vor allem in Richtung Saudi-Arabien und orientierten sich am Wahabismus.
Andere sagten: Wir haben einen Krieg gegen den Westen geführt, der uns kolonisiert hat. Unsere Zukunft liegt in Afrika und in der arabischen Welt und nicht im Westen, der uns ausgebeutet hat.
Und wieder andere argumentierten, Algerien habe diesen Krieg geführt, um sich zu befreien, um unabhängig und demokratisch zu werden. Wir sind blockiert und müssen dringend einen Ausweg aus dieser Sackgasse finden. Leider ist uns das bis heute nicht gelungen.
Was muss sich ändern?
Bis Mitte der 1980er-Jahre gab es gute Beziehungen zwischen Europa und Algerien. Jetzt sind die Brücken zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers fast vollständig verschwunden. Mit den Attentaten in vielen Ländern Europas ist der Wille zu einer Kooperation mit den Ländern des Südens nochmals geringer geworden.
Dass diese Brücken wieder aufgebaut werden, ist von vitaler Bedeutung. Sowohl für Europa wie auch für uns. Der Süden braucht den Norden, um sich entwickeln zu können. Der Norden kontrolliert die Technologie, das Know-How, die finanziellen Mittel. Wir können uns weder weiterentwickeln noch demokratisieren, solange wir mit dem Norden faktisch gebrochen haben.
Wie könnte man das Verhältnis wieder verbessern?
Ich bin ratlos. Ich sehe Angst und Abschottung auf beiden Seiten. Meiner Ansicht nach müsste man die totgeborene «Union für das Mittelmeer» wiederbeleben. Dieses Projekt beinhaltet ein politisches Programm und konkrete Strategien für die Zusammenarbeit in den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen. Doch dafür benötigen wir Jahrzehnte!
Gibt es denn genügend gemeinsame Interessen, die so eine Union ermöglichen würden?
Davon bin ich überzeugt. Da sind etwa die ganz grossen Strukturprojekte im Bereich Energieversorgung. Auch die nachhaltige Nutzung des Mittelmeers muss unbedingt gemeinsam angegangen werden. Auch im kulturellen Bereichen gäbe es viel zu tun.
Und da sind die Phänomene wie der Islamismus, gegen die der Norden und der Süden zusammen ankämpfen müssen. Für so ein Vorhaben braucht es gemeinsame Strukturen. Es ist absurd, wenn jedes Land für sich allein kämpft.