Lange Zeit will Saralisa Volm ihren Körper am liebsten loswerden. Er stört sie. Weil er nie gut genug ist. Als sie sieben ist, vergleicht sie mit anderen Mädchen, wie breit ihre Oberschenkel sind. Und obwohl sie selbst damals so dünn ist, dass ihre Eltern sie mit Kakao und süssen Frühstückspops vollstopfen, ist sie überzeugt: Ihre Beine sind zu dick.
«Seitdem ich in der Grundschule war, habe ich mich in meinem Körper nicht wohlgefühlt», sagt Volm heute. Jahrelang kämpft sie mit ihrem Körper – das beschreibt die Schauspielerin, Filmemacherin und Kuratorin in ihrem autobiografischen Sachbuch «Das ewige Ungenügend. Eine Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers».
So schlimm wie Alkoholsucht
Saralisa Volm schreibt auch ungeschönt über die Essstörung, die sie entwickelt, als sie 15 ist: Bulimie. Sie isst und erbricht sich danach wieder. Acht Jahre lang leidet sie unter der Krankheit, mal mehr, mal weniger. «Ich bin immer wieder da reingerutscht – es war wie eine Alkoholsucht», sagt Volm rückblickend. Zwei Therapien bricht sie ab. Sie versucht, allein mit der Krankheit fertig zu werden.
Den Absprung schafft sie nicht, weil die Krankheit ihrer Gesundheit schadet. Sondern weil die Bulimie anfängt, ihr Aussehen zu beeinträchtigen: «Ich bin dicker geworden. Wenn man sich regelmässig übergibt, versucht der Körper, alle Nährstoffe zu binden. Ausserdem hatte ich Angst, dass meine Haare und Zähne kaputtgehen.»
Heute ist Saralisa Volm 38. Sie lebt in Berlin, ist Mutter von vier Kindern. Das Verhältnis zu ihrem Körper ist schwierig geblieben. Mittlerweile gefallen ihr auch die Körperteile nicht mehr, die sie früher wenigstens manchmal okay fand. Ihre Brüste hängen, an den Beinen sieht man Besenreiser, im Gesicht die ersten Falten. So sieht Volm sich selbst.
Auf andere dagegen wirkt sie wie ein Model: lange Beine, schlanke Figur, ebenmässiges Gesicht. «Ich glaube, Frauen empfinden ihre Körper oft ganz anders, als sie tatsächlich sind. Meistens sehen sie sich im Vergleich. Und im Vergleich ist der Körper nie gut genug.»
Gut belegter Selbsthass
Tatsache ist: Viele Frauen verachten ihren Körper. Das bestätigt auch die österreichische Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner. Sie hat sich intensiv mit gesellschaftlichen Schönheitsidealen und Körperbildern auseinandergesetzt: «Dieser Selbsthass bei Frauen ist sehr gut belegt. Viele Frauen haben ein absolut verdinglichtes, verzerrtes Selbstbild: Sie sehen ihren Körper wie durch ein Raster und nehmen nur noch vermeintliche ‹Problemzonen› wahr.»
Ihr Körper sei für diese Frauen nicht das Medium, mit dem man die Sonne auf der Haut spüren und Sexualität erleben könne. «Sondern sie denken nur darüber nach: ‹Wie sieht das aus?›», erklärt Lechner.
Den eigenen und andere Körper abwerten
Dieser Schönheitsdruck betrifft zwar auch immer mehr Männer. Bei Frauen aber ist er noch krasser. Denn die Körper von Frauen werden permanent bewertet – und zwar von Kindheit an. Frauen und Mädchen haben das so verinnerlicht, dass sie oft selbst andere Frauen abwerten, sagt Saralisa Volm: «Es ist verrückt, wie normal es ist, abschätzig über andere Körper zu sprechen: ‹Was hat die denn für ein Kleid an? Hat die keine Freunde, die ihr sagen, dass sie so nicht herumlaufen kann?›»
Social Media hat den Druck auf Frauen, schön zu sein, noch verstärkt: «Wir werden den ganzen Tag überflutet mit Bildern, die besser aussehen als man selbst», sagt Saralisa Volm. «Dieser Vergleich ist allgegenwärtig.»
Politische Dimension des Selbsthasses
In ihrem Buch macht Volm deutlich, wer davon profitiert: unter anderem die Kosmetik- und Schönheitsindustrie. Die scheffelt mit der «Selbstoptimierung» von Frauen Milliarden. «Die Schönheitsindustrie beschämt ganz gezielt immer neue Körperregionen, um noch mehr Produkte zu verkaufen», erklärt Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner.
Die Selbstverachtung von Frauen ist also eng verwoben mit unserer kapitalistischen Konsumwelt. Dass sich Frauen oft so ungenügend fühlen, hat deshalb auch eine politische Dimension – und die werde viel zu oft übersehen, findet Saralisa Volm: Wer ein geringes Selbstwertgefühl habe, schraube seine Ansprüche automatisch zurück – gegenüber dem Partner, gegenüber der Gesellschaft und der Arbeitgeberin.
«Wenn ich nicht das Gefühl habe, dass ich das Recht auf gleiche Bezahlung habe – weil ich nicht genüge –, dann werde ich das vermutlich nicht einfordern. Viele in unserer Gesellschaft profitieren also davon, dass Frauen das Gefühl haben, sie müssten mehr leisten. In diesem Sinn ist es wahnsinnig ‹praktisch›, dass Frauen sich selbst so verachten», so Volm.
Wieso Body Positivity allein nicht hilft
Jung, weiss, dünn – so sieht das omnipräsente «Idealbild» eines Körpers in unserer Gesellschaft aus. Wer diesen Vorstellungen nicht entspricht, leidet noch stärker unter dem «Schönheitsdruck»: Schwarze und People of Colour, Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung, dicke und ältere Menschen, Leute aus der queeren Community. Sie alle werden in unserer von Äusserlichkeiten geprägten Gesellschaft auf unterschiedlichste Art benachteiligt.
In den vergangenen Jahren gibt es immer mehr Protest gegen ein solches genormtes Schönheitsbild. Die Body-Positivity-Bewegung etwa stellt fest: Alle Körper sind schön und gut, so wie sie sind. Diese Botschaft ist längst auch bei Mode- und Kosmetikfirmen angekommen.
Sie haben ihre Werbekampagnen entsprechend angepasst: Von Plakatwänden lächeln nun auch fülligere Frauen, die manchmal auch nicht-weiss sind. Allerdings haben auch sie meist einen flachen Bauch, keine Spur von Cellulite und perfekt enthaarte Beine. Saralisa Volm sieht das kritisch: «Damit soll mir doch auch wieder nur irgendetwas verkauft werden.»
So wie Volm sehen das viele Aktivistinnen. Deshalb gibt es mittlerweile eine weitere Bewegung: die sogenannte Body Neutrality. Der Gedanke dahinter: sich mehr auf das Miteinander fokussieren, weniger auf das Aussehen. Oder wie es Saralisa Volm formuliert: «Einfach den Körper Körper sein lassen.»
Fotos mit unrasierten Beinen
Das ist natürlich gar nicht so einfach. Doch Volm hat ein paar Ideen: Zum Beispiel solle man sich bewusst damit auseinandersetzen, wem man auf Social Media folge. Ziehen einen die Bilder perfekt aussehender Influencerinnen nur runter? Dann weg damit, findet Volm. Auch Werbung lasse sich automatisch ausblenden. Ihr Tipp: «Mehr Kunst gucken. Es gibt da fantastische Profile, die andere Körper zeigen – die nicht der Norm entsprechen.»
Ein solches Profil ist ihr eigenes: 2019 startete Saralisa Volm einen Instagram-Account, auf dem sie sich ein Jahr lang mit vermeintlichen Makeln zeigte. Dort sieht man sie etwa mit unrasierten Beinen und knallrotem Kopf nach dem Sport – alles Gegenbilder zu den perfekt inszenierten Fotos, die man sonst meist auf Social Media präsentiert bekommt.
Damit unsere Gesellschaft Körper auf lange Sicht neutraler bewertet, müsse man aber bei den Kindern ansetzen, findet Volm: «Viele von uns sind ganz klar mit Bodyshaming aufgewachsen. Da beurteilen Eltern oder Grosseltern, ob man zu dick oder zu dünn ist, zu gross oder zu klein. Ob man besser dies oder jenes anziehen sollte.»
Von Selbsthass zu Systemzorn
Nur: Diese Tipps helfen wenig, wenn man einen Körper hat, der auf irgendeine Art diskriminiert wird – weil man zum Beispiel eine körperliche Beeinträchtigung hat oder nicht-weiss ist. Dann kann man den eigenen Körper noch so lieben oder neutral bewerten. Die Gesellschaft zeigt einem ganz deutlich: Es ist nicht egal, wie du aussiehst.
Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner fordert deshalb, «dass wir den Selbsthass in Systemzorn verwandeln». Zum Beispiel, indem wir sinnlose Erfindungen der Schönheitsindustrie boykottieren oder Proteste organisieren. «Der widerständigen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt», findet sie.
Saralisa Volm hat mittlerweile Strategien entwickelt, um mit ihrem eigenen Körper besser klarzukommen: Sie stellt sich nicht mehr auf die Waage, verbringt nicht mehr so viel Zeit vor dem Spiegel. «Ich versuche mir öfter selbst zu sagen, dass manche Dinge egal sind. Ich versuche, mich von meinem Körper abzulenken.»