Egozentrische Pfauen tummeln sich allenthalben: Wirtschaftskapitäne blasen sich auf, Politikerinnen und Politiker lobpreisen ihre eigenen Verdienste, Fussballstars protzen mit Superluxussportwagen und Megavillen, Popsterne halten sich für die Grössten. Selbstdarstellung und -vermarktung haben Hochkonjunktur.
Doch auch wer nicht im Rampenlicht steht, kann der Masslosigkeit frönen: am «Black Friday», am «Cyber Monday», am «X-mas Power Sale» … Konsum à gogo. «Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen», brachte es der Hollywood-Schauspieler Walter Slezak (1902-83) einst auf den Punkt.
Möblieren wir die innere Leere durch sinn- und nutzlose Gegenstände? Trösten uns die Kauf-Tranquilizer über die Entfremdung vom Wesentlichen hinweg, die wir im Alltag erfahren?
Selbst wer das Geld dafür besitzt, kann sich fragen: Was brauche ich den neuesten HD-Flachbildschirm, das potenteste Handy, den Luxuswagen? Bringt es nicht vielleicht mehr Befriedigung, Zeit und Energie auf anderes zu verwenden? Auf innere Werte? Anders gefragt: Was kann Bescheidenheit leisten?
Karrierekiller Bescheidenheit
Thomas Biland, Headhunter in Zürich, spricht Klartext: «Wenn Sie bescheiden sind, sagen Sie ja: Ich bin mit dem Erreichten zufrieden. Im Privaten geht das, aber in einer Firma sind Sie so schnell weg vom Fenster.» Wer ganz nach oben kommen wolle, müsse ein Bedürfnis nach Selbstdarstellung haben.
Ein CEO, der sich bescheidene Ziele setze, sei in der heutigen, angelsächsisch geprägten Betriebskultur am falschen Ort. Börsenkotierten Firmen geht’s um Quartalsgewinne. «Langfristiges Denken finden Sie nur noch in Familienfirmen, in inhabergeführten und -getriebenen Unternehmen.» Ein CEO habe höchstens das nächste und übernächste Jahr im Auge.
Zu viel Raum für Machos?
«Bescheidene Personen gehören in der Regel eher zu den Verlierern», sagt Thomas Biland, «weil die anderen mit den Ellbogen, dem Macho-Gehabe, dem narzisstischen Gehabe viel mehr Raum in Anspruch nehmen und sie verdrängen.»
Der Headhunter selbst gewinnt leiserem Auftreten jedoch grosse Qualitäten ab: «Bescheiden kann auch jemand sein, der souverän auftritt, sich aber auf die Sache konzentriert. Dem es nicht darum geht, die Scheinwerfer permanent auf sich als Person zu richten, sondern auf die Leistung des Ganzen.»
Bescheidenheit als Gegenkonzept
«Wer bescheiden ist, gewinnt an Selbstachtung», sagt Caroline Schröder Field, Pfarrerin am Basler Münster. Der Begriff «Bescheidenheit» sei in der Bibel nicht leicht zu finden, bemerkt sie, obwohl dort diese Tugend immer wieder vorkommt. Etwa am Anfang des Lukas-Evangeliums, wo von «Niedrigkeit» die Rede ist: Gott hat seine «niedrige» Magd Maria als Mutter seines Sohnes ausersehen.
Caroline Schröder Field erwähnt auch das Adventslied «Macht hoch die Tür, die Tor macht weit», in dem besungen wird, dass «Sanftmütigkeit» Jesu «Gefährt» ist: «Der Messias ist ein Mensch, der friedfertig, niedrig, demütig und freundlich auftritt.» All diese Begriffe seien Facetten von Bescheidenheit und tief in der christlichen Kultur verankerte Werte, sagt die evangelische Pfarrerin.
Folgt Generation Bescheidenheit?
Mit dem Slogan «Tue Gutes und rede davon» lasse sich das Gute «in einer Atmosphäre des ständigen Über-sich-hinauswachsen-Wollens» gerade noch unterbringen. Doch Bescheidenheit könnte wieder populär werden, hofft die evangelisch-reformierte Pfarrerin und denkt dabei an die Klimadebatte: Der mittleren und älteren Generation könne zum Vorwurf gemacht werden, nicht bescheiden genug gelebt und ihre Grenzen nicht genug wahrgenommen zu haben. Zugleich müssten wir uns fragen, wie die nächste Generation diese Grenzen besser in den Blick bekommen kann.
Dabei müssten die leiseren, bescheideneren Menschen mehr wahrgenommen werden, sagt Schroeder. «Die Bibel äussert die Hoffnung, dass Gott dahin sieht, wo Menschen nicht hinsehen, nicht auf das Äussere achtet, sondern auf das Herz, da hinhört, wo Menschen nicht hinhören, also auf die leisen Töne.» Das sei ja der Kern der Weihnachtsgeschichte: Gott beachte das Unbeachtete und schreibe damit eine Geschichte, die nichts an Aktualität verloren habe.
Sich richtig einschätzen
«Bescheidenheit ist eine der besten Tugenden, die in der Thora beschrieben werden», erklärt Moshe Baumel, Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Basel. Moses werde als der bescheidenste Mensch gepriesen, der je gelebt hat. «Vor dem Pharao war er der selbstbewusste Anführer, der sein Volk freibekommen wollte.
Aber im Privaten stellte er sich nicht über seine Schwester Miriam und seinen Bruder Aaron.» Und auch gegenüber Gott habe Moses nie behauptet, er sei der Richtige für die Mission, sein Volk zurück nach Israel zu führen. «Er hat sich nie vorgedrängt.»
Bescheidenheit bedeute, sich richtig einzuschätzen, sich weder zu gross noch zu klein zu machen. Dass jemand genau wisse, was in seinen Kräften liegt, und dass er oder sie diese Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen auszuführen versuche.
Innere Zufriedenheit macht glücklich
Für das Leben der Gläubigen sei diese Tugend enorm wichtig, sagt Moshe Baumel. Auf der Charakterleiter im Talmud nimmt die Bescheidenheit die siebte von zehn Stufen ein. Sie ist schwierig zu erlangen. «Denn der Mensch ist sehr egozentrisch orientiert. Aus diesem Individuellen auszubrechen und sich Bescheidenheit anzueignen, das bedarf vieler Arbeit.»
Wer bescheiden sei, gewinne inneres Glück, ist Rabbiner Baumel überzeugt. «Zu Lebzeiten geniesst man wirklich Respekt, nicht des Geldes oder anderer flüchtiger Dinge wegen. Diese innere Zufriedenheit, die der Mensch mit Bescheidenheit erreichen kann, macht ihn glücklich. Und das ist ja, wonach wir Menschen streben: nach Glück und Zufriedenheit.»
Konsumstreik aus ökologischen Gründen
Doch Glück bedeutet für manche eben auch Konsum. Das hat Folgen: «Wer viel konsumiert, hat einen grossen ökologischen Fussabdruck», sagt der Physiker Henrik Nordborg, Professor am Institut für Energie- und Umwelttechnik der Hochschule für Technik in Rapperswil. Er propagiert deshalb einen Konsumstreik. Aus ökologischen Gründen.
Würden hinreichend viele Menschen mitmachen, müsste sich das Wirtschaftssystem verändern, sagt er. Der Konsumverzicht sei ein Hebel, mit dem jede und jeder der Klimaerwärmung entgegenwirken kann, sofort, nicht erst in zehn oder zwanzig Jahren, wenn – vielleicht – umweltfreundlichere Technologien einsatzbereit sein werden. Materielle Bescheidenheit wäre also nötig, damit die Menschheit auf diesem Planeten weiter existieren kann.
Der Mensch als Konsummaschine
Auf die Idee zum Konsumstreik brachte Nordborg die kürzlich verstorbene Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison. In einem Interview sagte sie, George W. Bush habe nach den Anschlägen vom 11. September in seiner Rede an die Nation die Amerikaner aufgefordert, zu leben wie vorher und weiter zu konsumieren. «Er hat die Menschen aufgerufen, die einzige Funktion zu erfüllen, die sie in der Gesellschaft noch haben: die Funktion als Konsumenten.»
Man fürchtete eine Rezession, falls der Konsum einbräche. Denn Konsum belastet nicht nur die Umwelt, er schafft auch Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, Wohlstand. «Das ist nur bedingt wahr», entgegnet Nordborg, «die CO2-Emissionen sind perfekt korreliert mit der Wirtschaftsleistung. Der Wohlstand aber nicht. Viele Studien zeigen: Ab einem gewissen Wohlstandsniveau werden wir durch mehr Konsum nicht glücklicher.»
Wer zu viel hat, schätzt den Wert nicht mehr
Wohlstand habe auch damit zu tun, wie die Gesellschaft organisiert sei und wie Einkommen und Vermögen verteilt seien. Natürlich wäre eine Umstellung auf CO2-neutrales Wirtschaften «nicht unproblematisch», gibt Henrik Nordborg zu, «man müsste eine viel aktivere Verteilungspolitik betreiben».
Ein radikales Umdenken sei aber dringend, sagt Nordborg: «Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte einen Stand erreicht, auf dem wir alle glücklich leben könnten, und wir setzen das durch Dummheit und Gier aufs Spiel.»
Wer zu viel hat, schätzt den Wert materieller Dinge nicht. Wer viermal im Jahr irgendwohin fliegt, für den ist die Reise nichts Besonderes mehr.
Ohne Konsum mehr Lebensqualität
Henrik Nordborg ist sich sicher: Durch einen Konsumstreik gewännen wir auch an Lebensqualität. «Wir rennen in einem Hamsterrad. Wir arbeiten extrem viel, sind gestresst und versuchen, uns zu belohnen, indem wir konsumieren.» Wir hätten die Produktivitätssteigerung des letzten halben Jahrhunderts nicht genutzt, um die Arbeitszeit zu reduzieren, «sondern bloss, um noch mehr Zeug zu produzieren, das wir konsumieren wollen».
Bescheidenheit statt hemmungslosen Konsums und des Strebens nach immer mehr? Warum nicht? Denn andere Möglichkeiten des Wirtschaftens gibt es sehr wohl. Nicht erst, seit der deutsche Forscher Wolfgang Sachs den Begriff «Suffizienz» in die Welt setzte. Auf «Entschleunigung, Entflechtung, Entkommerzialisierung und Entrümpelung» brach er diesen Begriff 1993 in einem Aufsatz herunter und plädierte damit für einen «massvollen Wirtschaftsstil».
Bescheidenheit rechnet sich
Manche Genossenschaften etwa wirtschaften anders: Wohnbaugenossenschaften, deren Zweck sich nicht im Gewinn erschöpft, sondern vor allem darin besteht, ihren Mitgliedern relativ günstiges Wohnen zu ermöglichen. Oder die Maschinenringe, die den Bauern Landwirtschaftsmaschinen vermieten oder vermitteln, weil es sich für viele nicht lohnt, selbst all das teure Gerät anzuschaffen.
Anders wirtschaften auch der Schreiner mit vier Mitarbeitenden, die Treuhandfirma mit zwei Niederlassungen und insgesamt 18 Angestellten, der Steinmetz und sein Lehrling. Sie arbeiten für ihren Kundenstamm und streben nicht nach Expansion, um die Arbeit überhaupt bewältigen und weiterhin den persönlichen Kontakt zu ihren Auftraggebern pflegen zu können.
Solche Bescheidenheit rechnet sich. Denn das Image solcher KMUs ist positiv. Grossspurige Unternehmen mit Superboni fürs Topmanagement dagegen laden eher nicht dazu ein, ihre Produkte und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.
Führungskräfte sollten demütiger sein
Dass sich Bescheidenheit auszahlen kann, weiss auch Wolfgang Jenewein, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen, der auch Topmanager und Organisationen aus Wirtschaft und Sport coacht, beispielsweise Bundesligavereine: «In instabilen Zeiten, wie wir sie heute erleben, braucht es Führungskräfte, die Nähe zulassen, die demütig und bescheiden sind, die Zwischentöne hören.»
Führungskräften müsse es um die Sache gehen, nicht um sich selbst. Wolfgang Jenewein rät seinen Klienten aktiv zu mehr Bescheidenheit: «Leadership lesson number one», sagt er und lacht: «Don’t take yourself too goddam serious!»
Gute Leader nehmen sich zurück
Je wichtiger sich der Chef nehme, desto weniger Feedback bekomme er. Er wird einsam und die Mitarbeiter nicken nur noch ab – auch untaugliche oder zweifelhafte Ideen. Das ist in unsicheren und komplexen Zeiten wie diesen gefährlich. «Ein gutes Korrektiv ist wichtig: die Mitarbeiter, die Familie oder die eigenen Eltern», bemerkt Jenewein. «Gute Leader, die künftig erfolgreich sein wollen, sollten mehr fragen und weniger sagen, mehr moderieren und weniger dozieren.»
Seine Erfahrung zeige, dass etwa Fussballtrainer, die sich nicht zu wichtig nähmen, langfristig erfolgreicher seien. «Die erfolgreichsten Menschen sind auch meist die bescheidensten», sagt Wolfgang Jenewein und führt als Beispiel Roger Federer an. Der sei immer auf dem Teppich geblieben.
Was kann Bescheidenheit leisten?
Bescheidenheit schadet zwar, wenn jemand beruflich ganz nach oben will. Sie fördert jedoch den Austausch von Ideen in der Firma und ermöglicht bessere Lösungen. Sie schont die Umwelt und ist der Selbstachtung und dem inneren Glück zuträglich.
Sie verschafft denen ein entspannteres Leben, die sich aus dem Rennen um Status und Luxus ausklinken. Man gewinnt geistigen Freiraum, Raum für Gedanken, für Kreativität. Zeit für Kontakte, Zeit, um zu sich zu kommen.