Wer in Landquart lebt, erntet meist nur ein mitleidiges Lächeln, wenn vom Wohnort die Rede ist. Landquart gilt als hässlicher Verkehrsknotenpunkt. Schon Thomas Mann schrieb im «Zauberberg» von «einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist».
Der Ort ist völlig untypisch für Graubünden, wo fast jedes Dorf seine Wurzeln im Mittelalter hat. Doch der Mangel an Geschichte hat auch Vorteile: Wer keiner Tradition gerecht werden muss, kann freier experimentieren.
Von der Eisenbahnersiedlung zur Gemeinde
Landquart ist vor rund 150 Jahren als Eisenbahnersiedlung der Rhätischen Bahn entstanden. Nach der Bahn kam die Papierfabrik, weitere Industrien folgten. Um 1910 lebten schon 1700 Menschen in Landquart.
Nicht nur Wohnhäuser und Fabriken, sondern auch ein Gemeindeleben wurde aus dem Boden gestampft: Chöre, Sportvereine, Theatergruppen wurden gegründet.
Landquart: das neue Amerika
Damals herrschte ein Pioniergeist, der Menschen aus der ganzen Schweiz, aber auch aus Frankreich und Italien anzog.
«Es hatte sich herumgesprochen, dass Landquart eine Art neues Amerika ist, dass dort Goldgräberstimmung herrscht», erzählt Werner Heck, dessen Grossvater 1905 aus dem Elsass nach Landquart zog, um einen Coiffeursalon zu eröffnen.
Keine Dorfidylle, aber Vielfalt
Von der damaligen Aufbruchsstimmung ist heute auf den ersten Blick nicht mehr viel zu spüren: Der Verkehr drängt sich durch die Bahnhofstrasse, einen charmanten Dorfkern sucht man vergeblich. Doch Landquart punktet mit Vielfalt.
Allein die Bahnhofstrasse bildet über 150 Jahre Architekturgeschichte ab: von Gartenstadtresten über die 1950er-Jahre bis hin zur Gegenwart.
Perlen der zeitgenössischen Architektur
Der Architekturstudent Johannes Berzau ist aus Frankfurt angereist, um einige Perlen der zeitgenössischen Baukunst zu besichtigen. Darunter das Auditorium der Landwirtschaftsschule Plantahof von Valerio Olgiati, das wie ein Fels aus Beton in der Landschaft steht. Innen wirkt der Bau wie eine Kirche. «Ein radikales Gebäude», lobt der angehende Architekt.
Pioniergeist bringt auch Marc Schneebeli nach Landquart. Er hat ein Kalibriergerät für Radare entwickelt, an dem sogar der chinesische Wetterdienst interessiert sei.
Der Physiker ist aus Bern mit seiner Familie hierhergezogen, weil er in den Bergen leben wollte. Die ausgedehnte Wiese für den Feldversuch gleich vor der Haustüre, die günstigen Büromieten und die Anbindung ans IC-Netz sprachen ebenfalls für Landquart.
68 Nationen in einem Dorf
Bis heute ist Landquart ein Schmelztiegel: Menschen aus 68 Ländern leben hier, darunter über 120 aus Äthiopien und Eritrea.
Die Äthiopierin Genet Hadgu lebt seit vier Jahren hier. Heute hat sie für zwei Freundinnen gekocht: ein typisches Sauerteig-Fladenbrot mit Fleisch- und Gemüsesaucen.
«Für mich ist Landquart wie Heimat», erzählt die Freundin Azieb Okubay beim Essen. «Man fühlt sich zugehörig – anders als in einer grossen Stadt. Hier sind die Leute interessiert am gegenseitigen Austausch.» Genets neunjähriger Sohn isst heute bei der Nachbarin, wo es sein Lieblingsessen gibt: Spätzli.
Nur das Wachstum bleibt
Neue Menschen mit eigenen Ideen werden das Gesicht von Landquart prägen. Denn Landquart wächst weiter. Mit 9087 Einwohnerinnen wird das Dorf bald zur Stadt.
Gemäss Prognosen wird die Bevölkerung in 20 Jahren um fast ein Drittel zunehmen. Und so ist die Veränderung die einzige Kontinuität an diesem Ort, der vor 150 Jahren aus dem Nichts entstanden ist.