Fussball – das ist das weite Feld Brasiliens, wo sich eine zerrissene Gesellschaft eins wähnt. Wo sich Arm und Reich, Schwarz und Weiss, Hoch- und Volkskultur umarmen. Zwei Beispiele: Nelson Rodrigues, der berühmteste Theaterautor Brasiliens, war auch Fussballreporter. Chico Buarque, der grosse Liedersänger, der auch als Schriftsteller Erfolge feiert, hat in seinem Roman «Budapest» den Protagonisten die Namen berühmter ungarischer Fussballer gegeben. Buarque ist Anhänger des Fussballclubs von Fluminense, spielt selber, bald 70, jeden Mittwoch mit seinen Freunden.
Eintrittspreise für Arme unerschwinglich
Jetzt beklagt Chico Buarque, wie viele andere auch, den Bau neuer Fussballstadien für die Durchführung der WM 2014. Nach Vorgabe der Fifa müssen die neuen Fussballtempel internationalen Standards des Komforts und der Sicherheit genügen. Statt 200'000 fasst das Maracana-Stadion in Rio – 1950 war es das grösste Fussballstadion der Welt – nach den Modernisierungen jetzt nur noch 70’000 Zuschauer.
Die Eintrittspreise sind für Menschen mit bescheidenen Einkommen unerschwinglich geworden. Aber mit den neuen Stadien besuchten in diesem Jahr 15 Prozent mehr Zuschauer die Spiele der brasilianischen Meisterschaft, und die Einnahmen der Clubs stiegen um 30 Prozent.
Wirkungslos gewordener Zauber
Die Ansprüche der Fans ändern sich. Die ganze brasilianische Gesellschaft ändert sich. Aber der Weg zu einem modernen Land ist mit Hindernissen gepflastert. Und das lässt sich auch an seinem Fussball beobachten – mit all seinen rückständigen Strukturen, unfähigen Funktionären und seinem wirkungslos gewordenen Zauber.
30'000 Fussballprofis versuchen in Brasilien von ihrem Beruf zu leben, 60 Prozent von ihnen verdienen gerade mal den Minimallohn von etwa 400 Franken, wenn sie denn den Lohn überhaupt erhalten – selbst die grössten und berühmtesten Clubs des Landes sind chronisch im Verzug mit ihren Lohnzahlungen. Deshalb hat sich jetzt eine Spielervereinigung organisiert mit dem Namen «Bom Senso» – gesunder Menschenverstand. Sie verlangen einen vernünftigen Spielplan und geregelte Ferien. Und wenn sie weiterhin ihre Löhne nicht kriegen, wollen sie im Jahr der Fussball-WM zum Streik aufrufen.
Das Land der Gauner oder Schlaumeier
Die Clubs haben mit der «Bom Senso»-Bewegung und vielleicht überhaupt mit einem gesunden Menschenverstand nicht viel am Hut. Die 24 grössten Vereine des Landes haben sich in den letzten fünf Jahren Schulden in der Höhe von einer Milliarde Franken aufgeladen. Der grösste Teil davon sind Steuerschulden, und deshalb wird die Politik schon einen Weg finden, das Problem ohne unpopuläre Entscheidungen zu lösen. Schliesslich landete Fluminense, der Verein von Chico Buarque, in den letzten 20 Jahren zwar dreimal auf den Abstiegsplätzen, aber nur einmal musste der populäre Verein aus Rio de Janeiro tatsächlich absteigen.
Denn Brasilien ist das Land der «Malandros», zu übersetzen, je nach Grad der Sympathie, mit Gauner oder Schlaumeier. In einem Land, das seine Kolonisatoren nie verjagte und sein aristokratisches Erbe nie bekämpfte, herrscht noch das Ideal des furchtlosen Ritters, der mit einem einzigen Streich die Realität auf den Kopf stellt.
Mit der Luftwaffe zur Haartransplantation
Deshalb lieben die Brasilianer ihre fussballerischen Malandros wie Romario oder Rolandinho, die sich mit einem einzigen Dribbling aus jeder Notlage befreien. Sie bewundern ihre Heldentaten mehr als einen gelungenen Torschuss. Aber wenn die Mannschaft verliert, pfeifen sie ihn gnadenlos aus.
So wie die Brasilianer auch ihren Schlaumeiern in der Politik immer weniger vertrauen. Der Präsident des brasilianischen Senats wurde eben dabei erwischt, wie er sich von einem Flugzeug der Flugwaffe zu einer Haartransplantation transportieren liess. Der Präsident des Fussballverbandes fiel auf, als er einem Juniorspieler die Medaille klaute.
Brasilien hat die Formel noch nicht gefunden, um das bewunderte Ideal des «Malandro» in ein modernes, auf Effizienz und Resultate ausgerichtetes System zu integrieren. Trotzdem kann Brasilien immer Fussball-Weltmeister werden im eigenen Land. Weil fast alle Spieler ihrer Mannschaft ins Ausland emigriert sind und dort gelernt haben, die eigene Kunstfertigkeit im Dienst eines gemeinsamen Ziels zurückzustellen.