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Integration? Braucht's nicht! Interview mit dem jüdischen Publizisten Max Czollek
Aus Kultur Webvideos vom 15.11.2021.
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Braucht es Integration noch? «Wir müssen die radikale Vielfalt der Gesellschaft anerkennen»

Die Idee von «Integration» passt nicht mehr zu unserer vielfältigen Gesellschaft, findet der Autor Max Czollek und fordert: Mehr Diversität, weniger Anpassung.

Max Czollek

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Max Czollek wurde 1987 in Ost-Berlin geboren. Er arbeitet als Publizist, Lyriker und Coach.

SRF: Was stört Sie am Konzept «Integration»?

Max Czollek: Meines Erachtens unterstellt der Begriff, dass eine Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn sie relativ ähnlich ist und Menschen sich anpassen. Ich nenne dies das «Integrationsparadigma». Es besagt: Es gibt eine Leitkultur, die Gesellschaft muss hierarchisch geordnet sein und bestimmte Teile der Gesellschaft dürfen bestimmen, wer genug ‹deutsch› ist und wer noch etwas leisten muss, um deutsch zu werden. Das ist nicht mehr angemessen.

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Streitfrage – Integration oder Diversität?
Aus Sternstunde Religion vom 14.11.2021.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 58 Minuten 30 Sekunden.

Deshalb fordern Sie in Ihrem Buch «Desintegriert euch». Zunächst klingt das wie eine Provokation. Welches Ziel verfolgen Sie damit?

Die Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten eine andere geworden, nämlich sehr vielfältig. Doch bis heute haben wir noch nicht die politischen Konzepte entwickelt, die dieser veränderten, gesellschaftlichen Realität entsprechen. Desintegration ist ein Versuch, wegzukommen vom Denken des Integrationsparadigmas, hin zu einer Anerkennung der radikalen Vielfalt der Gesellschaft, so wie sie heute schon ist.

Buchhinweis

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Max Czollek: «Desintegriert euch!», Hanser 2020.

Bedeutet das auch, dass es so etwas wie einen gemeinsamen Nenner weder braucht noch gibt?

Ich glaube, es gibt offensichtliche gemeinsame Nenner, wie etwa, dass wir alle nicht umgebracht werden wollen. Gesellschaft sollte ein Ort sein, an dem man ohne Angst verschieden sein kann.

Wir müssen uns überlegen, wie wir mit dieser real existierenden Unterschiedlichkeit umgehen, ohne dass wir permanent den Verdacht formulieren, dass die anderen noch nicht genug demokratisch, noch nicht genug Frauenrechte beachten, noch nicht genug säkularisiert sind und so weiter.

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Deep Diversity in Institutionen: Ein steiniger Weg (1/2)
aus Kontext vom 18.11.2019. Bild: Keystone / Hannleore Förster
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Was hat denn in diesem «Verschiedensein» noch Platz? Wie radikal vielfältig darf die Gesellschaft wirklich sein?

Ich würde sagen, es gibt die Menschenrechte als Handlungsrahmen. Innerhalb dieses Rahmens der Menschenrechte gibt es relativ viel Spielraum. Wenn Leute aber das Gesetz brechen, dann passiert das, was immer passiert: Die Exekutive verhaftet sie, die Judikative verurteilt sie.

Die Menschenrechte sind der Handlungsrahmen. Innerhalb dieses Rahmens gibt es relativ viel Spielraum.
Autor: Max Czollek

Wie muss man sich die ideale Welt nach Max Czollek vorstellen?

Gegenwärtig wird gesellschaftliches Zusammenleben neu verhandelt. Dabei treffen zwei Paradigmen aufeinander: Jenes nationale der Leitkultur, der Integration, der Vorstellung, dass Vielfalt ein Problem ist; und der Versuch, Gesellschaft neu zu denken als einen Ort, der weniger diskriminiert, weniger Gewalt ausübt, und der versucht, alle Menschen gleichermassen an der Gesellschaft zu beteiligen. Wir sind vielleicht nicht auf dem Weg zu einer idealen, aber doch zu einer idealeren Gesellschaft als der, in der wir gerade leben.

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Nicht jede Stimme zählt – Die Grenzen der Partizipation
Aus Kulturplatz vom 03.11.2021.
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Um die Debatte noch in eine andere Richtung zu lenken: In Deutschland wurde Ihnen vorgeworfen, als «Vaterjude» kein richtiger Jude zu sein, weil das Judentum eine matrilineare Religion sei. Was hat diese Ausschlusserfahrung Ihnen gemacht?

Dieses Gefühl kenne ich schon mein Leben lang: Ich bin ja nicht nur jüdisch, sondern komme aus der DDR. Entsprechend stellte sich für mich auch dort die Frage, ob ich im neuen Land dazugehöre oder nicht.

Sehen Sie: Das Judentum ist religiös, aber es ist auch nicht-religiös, es kommt aus dem Jemen, den USA oder Russland. Über die Hälfte der Jüdinnen und Juden in Deutschland sind nicht Teil jüdischer Gemeinden.

Das allein bedeutet schon, dass ein rein religiöses Denken darüber, wer dazugehört und wer nicht, über die Hälfte der Juden gar nicht mehr betrifft. Auch hier geht es um die Frage, ob wir diese reale jüdische Vielfalt akzeptieren lernen.

Das Gespräch führte Olivia Röllin.

Vielen Dank für Ihre Kommentare! Da wir sie nach 18 Uhr nicht mehr sichten können, beenden wir nun die Möglichkeit, zu kommentieren.

SRF 1, Sternstunde Religion, 14.11.2021, 10:00 Uhr ; 

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