Den 27. Mai 1989 wird Hoteldirektor Rolf Zollinger nie vergessen. Mitten in der Nacht erreichte ihn der Notruf, sein Hotel stehe in Flammen.
Jede Rettung kam zu spät: Das legendäre Waldhaus in Vulpera im Unterengadin war Geschichte, ein Wiederaufbau nicht finanzierbar. Der Brandstifter konnte bis heute nicht gefasst werden.
Die Gästekartei überlebte das Feuer
Wie durch ein Wunder blieben vier Holzkisten mit hochbrisantem Inhalt verschont. Sie waren zum Zeitpunkt des Infernos in einem anderen Gebäude eingelagert. Sie enthielten 20'000 Gästekarten, die Concierges und Rezeptionisten zwischen 1920 und 1960 heimlich geführt hatten.
Viele hätten wohl aufgeatmet, wenn auch diese Dokumente verbrannt wären. Denn sie werfen nicht gerade ein ruhmreiches Licht auf die Verfasser.
Dank der intensiven Arbeit des Fotografen Lois Hechenblaikner und der Kulturwissenschaftlerin Andrea Kühbacher – beide aus Tirol – sind die Kommentare jetzt als Buch erschienen.
Destination der Noblen und die Reichen
Das Grandhotel Waldhaus in Vulpera, 1897 erbaut, gehörte europaweit zu den ersten Adressen im Bädertourismus – vergleichbar mit dem legendären Karlsbad in Tschechien.
Die Noblen und die Reichen aus der ganzen Welt kamen in Kutschen im Unterengadin an, genossen die Kuren mit dem heilenden Wasser, vergnügten sich bei Bridge und Tennis oder kamen sich beim «Thé dansant» im Garten näher.
Das Waldhaus Vulpera sprach gezielt jene vermögenden Menschen an, die etwas für ihre Gesundheit tun wollten. «Alle, die schlimm husten, die Tuberkulose-Kranken» – so ein damaliger Kurarzt – «haben wir über dem Berg in Davos gelassen».
Prominente Gäste aus Europa
Während in den Anfängen des Hotels noch Vertreter der Hocharistokratie wie Zar Nikolaus II. mit Familie oder Königin Wilhelmina der Niederlande im Grandhotel Waldhaus abstiegen, kamen nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend vermögende Industrielle, berühmte Künstlerinnen und Künstler und einflussreiche Politiker. In den 1930er-Jahren reisten auch hochrangige Nazis ins Waldhaus, die Tisch an Tisch mit jüdischen Gästen sassen.
Die Klientel bewegte sich unter ihresgleichen und hatte keine Ahnung, dass der höfliche Concierge an der Rezeption heimlich seinem Ärger Luft machte – mittels giftiger Kommentare: «Ganz grober Kerl; treibt es arg mit den Weibern», «Grosser Protz à la Neureich», «Rappenspalter», «blöde Ziege» oder «Beisszange».
Emotionaler Blitzableiter
Für Fotograf Lois Hechenblaikner ist klar, dass diese Einträge als «emotionaler Blitzableiter» dienten. Denn oft mussten die Uniformierten am Empfang stoisch die Launen und Gemeinheiten der vornehmen Damen und Herren ertragen.
«Jeder Mensch bringt halt im Gepäck nicht nur seine menschlichen Qualitäten mit, sondern auch die ganze seelische Mülldeponie», sagt Hechenblaikner. «Und diese Karteikarten gab den einfachen Hotelangestellten die Chance, sich an der reichen Kundschaft zu rächen.»
«Nicht mehr nehmen!»
Wenn einer mit Trinkgeldern geizte, war er «ein schlechter Markierer». Sprach er grosszügig dem Alkohol zu, erhielt er das Etikett «guter Kellergast». Überstiegen Gäste ein gewisses Mass an Contenance, fiel das Verdikt «Keine Ostergrüsse mehr!» oder «Nicht mehr nehmen!».
Ob dieser Verstoss aus dem Paradies überhaupt in ihren Kompetenzen lag, sei unklar, sagt Andrea Kühbacher. Ebenfalls offen bleibt die Frage, ob die Direktion eigentlich von diesen Fichen gewusst hat. «Wahrscheinlich war die Chefetage sehr wohl im Bilde», vermutet die Kulturwissenschaftlerin, «aber man liess es offenbar einfach laufen.»
Frauen strenger beurteilt
Was auffällt: Damen wurden – zumindest aus moralischer Perspektive – sehr viel strenger beurteilt als Herren. Zweideutige Kommentare wie «Umtriebige Frau in jeder Hinsicht» liess auf Männerbesuche schliessen.
Bei einer Unterwäsche-Produzentin aus den USA stand sogar explizit: «Nice, would like to have twelve Gigolos at the Waldhaus». War eine Dame häufig an der Bar anzutreffen, nannte man sie hinter vorgehaltener Hand «Miss Martini».
Ein schleichender Antisemitismus
So gesehen entlarven diese Karteikarten nicht nur das Benehmen der Gäste, sondern auch die Geisteshaltung ihrer Verfasserinnen und Verfasser. Deutlich wird das vor allem im Umgang mit der jüdischen Klientel.
«Man kann einen schleichenden Antisemitismus in den Karteikarten ausmachen», zieht Andrea Kühbacher Bilanz. Hiess es Anfang der 1920er-Jahre noch «ein wahrer Levy», oder «Juden, aber äusserst nett», wurden die negativen Kommentare dann immer unverblümter. Dazu verwendeten die Concierges zuweilen auch spezielle Codes, hinter denen sie ihre rassistische Gesinnung verstecken konnten.
«Billiger Tiroler»
Erst durch intensive Recherchearbeit gelang es den Herausgebern, diese verklausulierten Begriffe zu knacken. Sie hatten bemerkt, dass ab 1928 bei jüdischen Familiennamen häufig der Begriff «Tiroler» in diversen Varianten vermerkt war, obwohl es sich keineswegs um Leute aus Österreich handelte: «Etwas Tiroler», «billiger Tiroler», «grosser Tiroler».
Andrea Kühbacher glaubt, dass die Concierges damit auf die legendäre Geschäftstüchtigkeit der Zillertaler Tiroler anspielten und sie auf die jüdischen Gäste übertrugen.
«P» für «Palästina-Schweizer»
Ein zweiter Code tauchte nach dem Zweiten Weltkrieg auf, als eine antisemitische Haltung definitiv als Tabu galt. Also wichen die Leute an der Rezeption auf ein Rating mit dem Buchstaben «P», «PP» oder «PPP» aus. Da hiess es zum Bespiel «P, but nice» oder «PPP macht seiner Rasse Ehre».
Andrea Kühbacher fand heraus, dass sich der Buchstabe «P» auf «Palästina-Schweizer» bezog, und die Anzahl der P’s in einem Kommentar der Hinweis sein sollte, wie «jüdisch» die Gäste wahrgenommen wurden: «Je mehr P’s, umso schlechter kamen sie weg.»
Ab den 1950er-Jahren schien dann die Schonzeit vorbei, und in den Karteikarten wurde wieder explizit ein antisemitisches Vokabular gebraucht: «Schiesst den Vogel aller Juden ab.»
Ein dunkles Kapitel Schweiz
Was diese Kartei so einmalig mache, sei die Tatsache, dass sie der verschriftlichte Beweis darstelle, wie stark der Antisemitismus auch im breiten Volk verbreitet war, sagt Lois Hechenblaikner. «Die Einträge dokumentieren, dass in der Schweiz über Jahrzehnte eine doppelbödige Haltung vorherrschte. Unter der Oberfläche war sie ganz anders als in der Aussenwahrnehmung.»
Da müsse ein ganzes Land eine tiefe Gewissenserforschung begehen, ist der Fotograf überzeugt: «Und es ist wohl die Aufgabe von Historikern und Kulturwissenschaftlerinnen, dem nachzugehen.»
So oder so: Der brisante Band «Keine Ostergrüsse mehr!» bietet zweifellos Zündstoff und hat das Zeug, eine breite Diskussion in der Schweiz auszulösen.