Warum hat Schawinski das Buch geschrieben? Im Vorwort schreibt Schawinski, dass Anuschka Roshanis Artikel im «Spiegel» ihn aufgewühlt habe. Zuerst habe er ihr geglaubt. Trotzdem habe er auch dem Beschuldigten die Möglichkeit geben wollen, sich zu äussern. Vor allem aber, schreibt Schawinski, wollte er herausfinden, was wirklich passiert ist.
Hat Schawinski herausgefunden, was wirklich passiert ist? Nein. Schawinski legt in seinem Buch zwar eindeutig eine Version der Ereignisse nahe: Dass Anuschka Roshani gelogen habe. Schawinski behauptet, sie habe Finn Canonicas Job als Chefredaktor gewollt und sich den Machtmissbrauch nur ausgedacht. Beweisen lässt sich diese Behauptung nicht.
Woran macht Schawinski seine Behauptung fest? Vor allem am Untersuchungsbericht einer Anwaltskanzlei. Diesen Bericht hatte der Verlag des «Tages-Anzeigers», Tamedia, in Auftrag gegeben. Die Untersuchung kam zum Schluss, dass ein Grossteil der Vorwürfe gegen Finn Canonica nicht haltbar sei, weil entsprechende Belege fehlten.
Schawinski bringt auch andere Argumente vor – einige davon wirken durchaus stichhaltig. Zum Beispiel bemängelt er, dass der «Spiegel» unzureichend recherchiert habe und anscheinend nicht mit den aktuellen Redaktionsmitgliedern des «Magazins» gesprochen hat.
Das Branchenblatt «Schweizer Journalist:in» dagegen hat anonym mit den einzelnen Redaktor:innen gesprochen. Dabei kam heraus, dass aus dem aktuellen Team niemand das Mobbing bestätigt.
Warum überzeugt Schawinskis Argumentation nicht? Weil Schawinski journalistisch unsauber arbeitet: Zum einen bleibt unklar, woher er bestimmte Informationen hat. Zum anderen übernimmt er Aussagen von Finn Canonica, ohne sie zu hinterfragen.
In seiner Radio-Sendung konnte Schawinski als bislang einziger seit den Vorwürfen ein Interview mit Finn Canonica führen. Dabei befragte er den Beschuldigten vergleichsweise freundlich. Schawinski hat Canonica auch danach getroffen und mit ihm über sein Leben gesprochen. Im Buch schildert Schawinski Canonicas Kindheit, seine Medikamentenabhängigkeit und wie schlimm die Vorwürfe für ihn und seine Familie seien. Da ist sehr viel Mitgefühl spürbar.
Die Passagen über Anuschka Roshani dagegen klingen gehässig und polemisch – und sind teilweise spekulativ. Zum Beispiel fabuliert Schawinski am Ende darüber, wie Roshani ihren Gastbeitrag für den «Spiegel» absichtlich mit pikanten sexuellen Details gewürzt haben könnte. Er wirft ihr also vor, dass ihre Geschichte eine Lüge ist.
Was können wir aus der Affäre und der Berichterstattung darüber lernen? Der Fall zeigt einmal mehr, wie schwierig es ist, bei Machtmissbrauch oder sexueller Gewalt zu beweisen, was wirklich passiert ist. Umso wichtiger ist, dass Journalist:innen, die darüber berichten, ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen.
Eventuell ist das in diesem Fall nicht ausreichend passiert. Der «Spiegel» jedenfalls muss vorerst neun Passagen aus Anuschka Roshanis Gastartikel streichen, weil sie nicht ausreichend belegt werden konnten. Das hat das Landgericht Hamburg in der vergangenen Woche entschieden. Aber auch Schawinski kommt mit seinem Buch dieser besonderen Sorgfaltspflicht nicht nach.