Grosses Schweigen herrscht bis heute in manchen Familien, wenn es darum geht, über die nationalsozialistische Vergangenheit der Grosseltern-Generation zu sprechen. Die Historikerin Barbara Bonhage hat mit ihrem Buch «Gnadenlos geirrt» das Schweigen gebrochen. Darin rekonstruiert sie mithilfe alter Briefe die Biografie ihrer Grossmutter während der Hitlerdiktatur.
SRF: Sie haben sich bereits 2001 in der Bergier-Kommission mit dem Nationalsozialismus befasst. Erst vor ein paar Jahren kamen Sie nach dem Tod eines Onkels in den Besitz von 1000 Briefen Ihrer Grossmutter und Urgrossmutter. Ein überraschender Fund?
Barbara Bonhage: Ja. Ich konnte manchmal gar nicht glauben, was ich da las. Vorher wusste ich nur, dass meine Grossmutter Hilde an Tuberkulose gestorben war und mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatte.
Nun las ich, dass sie die antisemitische Ideologie auch tatkräftig vertrat. An ihre Schwester schrieb sie 1933, dass sie zu einer Nachbarin stolz gesagt habe: «Nun habt ihr die Judenbrut endgültig ausgeräuchert.»
Durch die Briefe wurden Sie als Historikerin mit der Nazi-Vergangenheit Ihrer Grossmutter konfrontiert. Wie reagierten Sie darauf?
Zuerst fragte ich mich, warum mir das bisher niemand erzählt hatte. Ich wusste nicht, dass meine Grossmutter in der NSDAP war und in deren Frauenorganisation Karriere machte. Auch nicht, dass sie 1941 mit ihrer Familie nach Posen in ein Haus zog, dessen Besitzer wahrscheinlich enteignet worden war.
Ich erfuhr, dass sie eine treibende Kraft der Nazi-Siedlungspolitik im besetzten Polen war. Die von der Nazi-Doktrin verlangte Ausgrenzung von Menschen betrieb sie aktiv und integrierte dies vollständig in ihr Denken und Handeln, ohne die Gewalt explizit zu benennen, die damit verbunden war.
Zum Beispiel?
Als Leiterin der NS-Kreisfrauenschaft in Posen organisierte sie für das Winterhilfswerk Wollsachen und Pelze für die Soldaten an der Ostfront. Hilde berichtete in einem Brief von einem ansehnlichen Sammelergebnis, verschwieg aber, dass viele dieser Kleider vertriebenen Menschen weggenommen worden waren.
Sie schrieb über diese Kleidersammlung ebenso wie über das Stillen ihres Kindes und ihre Haushaltsführung. Sie schilderte auch, wie sie vor lauter «Hauskrämchen», wie sie es nannte, keine Zeit hatte, ein kluges Buch zu lesen.
Ein Stück weit konnte ich mich mit ihrem Frauenleben identifizieren. Die wissenschaftliche Distanz ist dadurch erodiert. Ich musste mich fragen, ob ich es damals eigentlich besser gemacht hätte als sie.
Bleibt das noch heute eine Frage?
Auf jeden Fall. Ich hoffe, dass ich selbst nicht so kalt gegenüber dem angerichteten Leid gewesen wäre. Zum Beispiel in der Reichspogromnacht im November 1938: Da lagen Schaufenster in Trümmern, da waren ausgeräumte Geschäfte, und da sah man Juden, welche die Scherbenhaufen zusammenkehren mussten.
Hilde freute sich, dass ihr ordentliches Deutschland, wie sie dem sagte, alles so schnell und gründlich wieder aufräumen liess. Angesichts solcher Szenen hoffe ich, dass ich darauf anders reagiert hätte.
Sie sagen, die wissenschaftliche Distanz sei erodiert, andererseits enthält der Titel Ihres Buches «Gnadenlos geirrt» eine Bewertung durch die Historikerin – ein Widerspruch?
Als Frau kann ich die Alltagssorgen meiner Grossmutter nachvollziehen, etwa wenn es um die Erziehung der sechs Kinder ging. Doch bei allem Einfühlungsvermögen muss ich sagen: Ja, sie hat sich geirrt, und sie gehörte zu den Täterinnen.
Die Schuld, die sie auf sich geladen hat, lässt sich nicht beschönigen. Zudem scheint es mir aus heutiger Sicht wichtig, Position zu beziehen.
Wie kamen Sie zum Entschluss, diese belastete Familiengeschichte öffentlich zu machen?
Das hat mir auch Angst gemacht: Ich gebe eine Familiengeschichte preis, über die jahrzehntelang geschwiegen wurde. Niemand in der Verwandtschaft sprach darüber. Ich musste für mich klären, ob ich das veröffentlichen darf.
Ich habe mich für die Publikation entschieden, weil ich nicht so weiter schweigen wollte, wie man unter Nazis schon geschwiegen hatte. In diese Tradition wollte ich mich nicht stellen. Diese Geschichte zu erzählen, war befreiend. Es bedeutet auch, dass ich mich mit der belasteten Vergangenheit meiner Vorfahren nicht mehr verstecken muss.
Das Gespräch führte Sabine Bitter.