Das Wichtigste in Kürze
- Der Politologe Alfred Grosser wirft in seinem autobiografischen Essay «Le Mensch» einen sorgenvollen Blick auf Europa.
- Der Atheist Grosser beleuchtet den Rechtspopulismus in Frankreich weniger als Polit-Prohet, denn als kritischer Humanist.
- Trotz der Terrorangst seien die Franzosen die Polarisierung leid und würden Emmanuel Macron wählen, behauptet Grosser im Buch.
Verfechter des Europa-Gedankens
In Frankreich sagt er Gutes über Deutschland, in Deutschland Böses über Deutschland. In Frankreich Böses über Frankreich und in Deutschland Nettes über Frankreich. Alfred Grosser hat sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs für die Verständigung zwischen den ehemals verfeindeten Nationen engagiert wie kein Zweiter.
Zudem ist er ein glühender Verfechter des Europa-Gedankens, den er den Europa-Verächtern süffisant um die Ohren haut: «Zuerst einmal, weil ich im Gegensatz zu den meisten Europäern und Schweizern die Verträge gelesen und gesehen habe, dass ich ein Bürger Europas bin. Das steht in allen Verträgen, das weiss nur noch niemand.»
Atheistischer Christ
In seinem autobiografischen Essay «Le Mensch» lernen wir Grosser als streitbaren Humanisten kennen, der skeptisch, humorvoll seine politischen Erfahrungen Revue passieren lässt, aber auch sorgenvoll in die Zukunft blickt.
Einer Zukunft, in der religiöse Identitäten eine immer grössere Rolle spielen. «Ich glaube an Menschen. Aber ich bin von einem deutschen Journalisten als jüdisch Geborener, mit dem Christentum geistig verbundener Atheist richtig definiert worden. Die meisten meiner Freunde sind Christen und Priester.»
Als «gläubiger Atheist jüdischer Herkunft» eckte Grosser stets an: Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat ihn einmal des Antisemitismuses bezichtigt, weil er die Palästinenserpolitik Israel scharf kritisiert hat.
Katholischer Extremismus
Wohin steuern die Kernländer der europäischen Union, die mit islamistischem Terror zu kämpfen haben und für das Flüchtlingsdrama eine Lösung finden müssen?
Der seit fast 60 Jahren mit einer Katholikin verheiratete Atheist macht auf ein anderes Problem seiner französischen Heimat aufmerksam: «In Frankreich gibt es zirka anderthalb Millionen von hartgesottenen überzeugten, rechtsextremen Katholiken. Das ist das Wahlvolk von François Fillon.»
Das Problem ist die Dämonisierung
Mit dem Abendland ist es so eine Sache. Auch mit dem christlichen Europa, wie es die deutsche Pegida-Bewegung und der Front National in Frankreich beschwören. Sie schirmen sich gegen den Islam und junge Muslime pauschal ab.
Grosser betrachtet das Problem aus einer anderen Perspektive: «Das Problem dieser jungen Menschen in den Banlieus ist nicht der Islam, sondern die laufende Diskriminierung und Dämonisierung.»
Frankreich vor dem Bürgerkrieg?
Wohin die Reise mit Europa geht, ist ungewiss. Auch Frankreich schlägt am 23. April, wenn ein neues Staatsoberhaupt gewählt wird, eine neue Richtung ein. Nach den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und die Massaker von Paris und Nizza befindet sich Frankreich in einem Ausnahmezustand.
Im Fokus steht der religiöse Fundamentalismus als Spaltpilz der Grande Nation. «Es gibt wieder mal die Verallgemeinerung. Es gibt den hartgesottenen Islam. Es gibt den mörderischen Islam. Das ist aber eine Minderheit.» Ob das für Marine Le Pen reicht? Für Grosser eine absurde Idee: «Die Franzosen sind trotz der Terrorangst die Polarisierung leid und werden Emmanuel Macron wählen.»
Flüchtlingskrise, kein Fall für Zyniker
«Ich bin jemand, der nachher voraussagt wie man hätte voraussehen können.» Grosser will kein Polit-Prophet sein, vielmehr der kritische Humanist, der nicht mit dem Finger auf andere zeigt, sondern auf Ungereimtheiten schaut. Ist das abendländische Europa, das Pegida und der Front National beschwören, nicht auch eines der KZs und kolonialer Ausbeutung?
Intellektuell sei er pessimistisch, genetisch aber ein Optimist, bekennt Grosser und hält mit seiner Sympathie für Angela Merkels Flüchtlingspolitik nicht hinter dem Berg: «Die Zeitungen, die Medien und die Mehrzahl der Bevölkerung können nicht glauben, dass ein Politiker aus Moral und nicht aus Zynismus etwas macht, und sie hat es weitgehend aus Moral gemacht.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 10.4.2017, 17:22 Uhr