«Aha!», denkt man oft, wenn man «Unsichtbare Frauen» der britischen Journalistin Caroline Criado-Perez liest.
Warum sitzen Frauen häufig mit einem extra dicken Pulli im Büro? Weil die gängige Formel für die Raumtemperatur optimal ist für einen Mann in seinen 40ern, erklärt Criado-Perez im Buch «Unsichtbare Frauen». Für Frauen, die einen langsameren Stoffwechsel haben, ist es oft zu kalt. Aha!
Wieso warten Frauen vor der Toilette meist länger als Männer? Oft werden Klos mit gleicher Fläche geplant, obwohl mehr Pissoirs als Kabinen in den Raum passen. Frauen bräuchten aber nicht nur gleich viel, sondern sogar mehr Klos: Weil sie meist länger brauchen – etwa mit Strümpfen oder komplizierten Reissverschlüssen hadern, manchmal ihre Tage haben oder öfters Kinder begleiten. Gerechnet wird bei der Anzahl Klos dennoch mit dem Sitzverhalten der Männer. Ach so? Ach so!
Weshalb muss ich mich vor Supermarktregalen so oft auf die Zehenspitzen stellen? Weil die Höhe sich an einem durchschnittlich grossen Mann ausrichtet. Ah ja? Oh je.
Gestatten: der Gender Data Gap
Schuld ist der Gender Data Gap, schreibt Criado-Perez. Wenn neue Dinge entwickelt werden, dann wird von gewissen Durchschnittsdaten ausgegangen. Das sind in der Regel die der Männer. Weibliche Bedürfnisse werden entweder vergessen, nicht erforscht oder ignoriert.
Die Autorin erklärt das damit, dass kulturell der Mann als Prototyp des Menschen gesehen wird und die Frau als Abweichung vom Normalfall. Es sei also keine böse Absicht, sondern Zeichen einer uralten Verzerrung in unseren Köpfen, dass die Hälfte der Bevölkerung wie eine zu vernächlässigende Minderheit behandelt werde.
Dieser Gender Data Gap – so zeigt Criado-Perez an unzähligen Beispielen – beeinflusst, wie unsere Alltagswelt und Arbeitsleben aussehen. Er bestimmt, wie Produkte designt und Politik gemacht wird, aber auch wie gefährlich wir leben oder wie gut wir behandelt werden, wenn wir krank sind.
Die Folgen sind ärgerlich bis tödlich
Nicht alle Folgen sind demnach so harmlos wie die zuvor genannten. Manche sind einschneidend: Wenn 5-mal häufiger zu Erektionsstörungen als zu PMS geforscht wird. Wenn das Renten- und Lohnsystem männliche Lebensläufe als Standard setzt und abstraft, wer sich um Kinder kümmert oder Care Arbeit leistet.
Teilweise sind sie gefährlich oder potenziell tödlich: Etwa wenn Medikamente nur an männlichen Probanden getestet werden oder «vergessen wird», wie sich die Wirksamkeit durch den weiblichen Zyklus verändert.
Wenn bei Crashtests für Autos die Dummies so gross und schwer sind wie ein Mann, und sich Frauen in der Folge bei Unfällen öfter verletzen. Wenn Polizistinnen von unpassenden Uniformen kaum geschützt werden. Oder wenn die Schulmedizin bei einem Herzinfakt von den Symptomen ausgeht, die Männer zeigen – und Frauen oft eine falsche Diagnose kriegen.
Ein Rundum-Schlag
Die Liste liesse sich weiterführen. Caroline Criado-Perez Buch ist ein Rundum-Schlag, unterfüttert mit vielen Fakten und Studien: auf knapp 500 Seiten kommen über 1330 Fussnoten. Das ist beeindruckend.
An einigen Stellen beschleicht einen aber auch das Gefühl, dass es unfreiwillig Stereotype reproduziert. Zwei Hände zum Tippen auf dem Smartphone nehmen zu müssen: Welche Frau kennt das nicht? Aber liegt das nun wirklich daran, dass die Entwickler das Gerät für grosse Männerhände gebaut haben - oder daran, dass wir einen möglichst grossen Bildschirm wollen?
Die Autorin will in erster Linie aufrütteln – und ein systematisches Problem insgesamt sichtbar machen. «Entscheidend ist das Muster», schreibt sie am Anfang. Und appeliert am Ende: Ist es (an-)erkannt, kann man es angehen, etwa indem man Frauen in Entscheidungspositionen fördert.
Dazwischen macht das Buch mit Anektoden und Alltäglichem den abstrakten Gap greifbar, lässt die Leserin schmunzeln – und die Stirn runzeln.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 2.3.20, 17:10 Uhr