Vor knapp zwei Jahren hat der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausgerufen, um mit mehr Entscheidungsbefugnissen durch die erste Corona-Welle zu führen. Die Ausnahmesituation erlaubte es, das demokratische System vorübergehend einzuschränken.
Die Politikwissenschaftlerin Palmo Brunner erklärt, ob in diesen Fällen nicht doch Autokratien besser funktionieren – und wie das Musterkind Schweiz im Vergleich da steht.
SRF: Corona-Massnahmen in der Pandemie ist ein weites Feld. Was genau haben Sie untersucht?
Palmo Brunner: Uns hat insbesondere das demokratische Dilemma interessiert: Grundrechte, die sonst in der Demokratie hochgehalten werden, wurden eingeschränkt. Es war wichtig, dass die Staaten schnell handeln konnten, und so wurden die sonst gängigen «Checks and Balances» teilweise ausgesetzt.
Man hat gesehen, dass Autokratien viel schneller handeln konnten. Demokratien waren insgesamt eher zögerlicher. In der Studie interessierte uns, dass es innerhalb der demokratischen Länder grosse Unterschiede gab und wie weitreichend die Massnahmen waren.
Je stärker die Demokratie vor der Krise war, desto weniger wurden die individuellen Freiheiten in der Pandemie eingeschränkt.
Welche Ergebnisse konnten Sie aus der Studie ziehen?
Wir haben 34 europäische Länder in der ersten Welle analysiert. Ein wichtiger Faktor war die Qualität der Demokratie. Kurz gesagt: Je stärker die Demokratie vor der Krise war, desto weniger wurden die individuellen Freiheiten in der Pandemie eingeschränkt.
Welche Tendenzen konnten Sie bei den untersuchten Ländern ausmachen?
Bei den Freiheitseinschränkungen konnten wir feststellen, dass Länder wie Finnland, Schweden oder Island wenig verbindliche Einschränkungen getroffen haben. Diese Staaten haben sonst auch starke Demokratien. Länder wie Serbien oder Bosnien Herzegowina hatten hingegen starke Freiheitseinschränkungen getroffen. Oder Polen und Ungarn: Dort wurde die Macht viel stärker konzentriert. Diese Länder zeigten schon vor der Pandemie autokratisierende Tendenzen.
Und wo steht die Schweiz in diesem Bild?
Die Schweiz ist ein bisschen ein Ausnahmefall. Und zwar hat sie die Grundrechte in der ersten Welle viel weniger stark eingeschränkt als der europäische Durchschnitt – trotz vergleichbarer Fallzahlen. Und gleichzeitig regierte der Bundesrat mit Notrecht. Das Parlament hat die Session unterbrochen und der Bundesrat hat alleine über die ausserordentliche Lage verfügt. Aus demokratietheoretischer Sicht war das sehr bedenklich. Ein Musterland für die Demokratie hat hier eher weniger gut abgeschnitten.
Die Demokratie hat den Stresstest einigermassen gut bestanden.
Wie beurteilen Sie die Tauglichkeit von Demokratien in Krisen aufgrund Ihrer Forschung?
Man kann sich natürlich fragen, ob es nachteilig ist, wenn Länder zögerlicher handeln in Anbetracht einer solchen Krisensituation. Andere Studien zeigten, dass man auch innerhalb des bestehenden demokratisch rechtsstaatlichen Rahmens handeln kann.
Auf langfristige Sicht ist das sehr wichtig. So bleibt auch die Akzeptanz und das Vertrauen in die Regierung bei der Bevölkerung aufrecht. Das hat man in der Schweiz bei der zweiten und dritten Welle beobachten können. Wir haben zweimal darüber abstimmen können und da hat die Demokratie den Stresstest einigermassen gut bestanden.
Das Gespräch führte Sarah Herwig.