Lebe deinen Traum! Das ist im Homeoffice nicht ganz leicht. Die Corona-Krise stellt das auf Selbstverwirklichung ausgerichtete Leben ziemlich auf den Kopf. Und haben wir nicht auch gelernt, wir seien für die Gesundheit in Eigenregie verantwortlich? Corona stellt unsere Autonomie infrage, sagt der Zürcher Medizinhistoriker Flurin Condrau.
SRF: Vergleiche von Corona mit Pest, Cholera oder AIDS sind derzeit «en vogue». Lassen sich daraus hilfreiche Erkenntnisse gewinnen?
Flurin Condrau: Ich halte nicht viel von solchen Vergleichen. Nicht nur wegen der Unterschiede dieser Krankheiten, sondern wegen der weltanschaulichen Unterschiede zwischen den damals und jetzt betroffenen Gesellschaften.
Ist die Angst vor Krankheit und Tod nicht eine Konstante in der Menschheitsgeschichte?
Der Umgang hat sich komplett verändert. Bei den Pest-Epidemien starben jeweils so viele Leute, dass man jederzeit damit rechnete, abberufen zu werden. Man hat den Tod um jede Ecke erwartet.
Doch die Welt war damals auf das Seelenheil im Jenseits orientiert. Denken Sie nur an die spielerischen Totentanzdarstellungen, eine ständige Auseinandersetzung mit der Frage nach Leben und Tod.
War das bei den Cholerapandemien des 19. Jahrhunderts anders?
Die Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts – mit der wissenschaftlichen Hygiene als Leitdisziplin, mit der Trink- und Abwassersanierung der Städte – war reine Verhältnisprävention.
Diese Massnahmen bezogen sich auf die Infrastruktur. Das Verhalten der Menschen haben sie nur begrenzt verändert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dieses Denken.
Welche Erkenntnis hat zu diesem Umdenken geführt?
Das steigende Verständnis für chronische Krankheiten hat nach neuen medizinischen Methoden verlangt. Bei chronischen Krankheiten wie etwa Herzkreislaufschwäche reicht öffentliche Hygiene nicht mehr.
Man geht über zur sogenannten Risikofaktoren-Epidemiologie. Das heisst, man untersucht die Krankheiten in Bezug auf Risikofaktoren. Dadurch gerät das Verhalten jedes Einzelnen in den Vordergrund. Jeder muss sein Risiko selbst abschätzen und Risikokalkül betreiben für alles, was er macht.
Auf einen Schlag sind wir nicht mehr als Einzelpersonen unterwegs.
Jeder ist sein eigener Gesundheitscoach und Risikomanager. Hatte diese Sicht Bestand bei der AIDS-Pandemie der 1980er- und 90er-Jahre?
Beim AIDS-Phänomen dachte man anfänglich, es betreffe nur bestimmte Risikogruppen, und alle anderen bräuchten sich nicht dafür zu interessieren. Ab 1986 merkte man, dass es ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.
Aber mit der «safer sex»-Formel hat man es geschafft, gezielt einige wenige Hygieneregeln für das allgemeine Verhalten zu definieren, ohne die persönliche Freiheit weiter einzuschränken.
Und heute?
Das funktioniert in der Corona-Krise überhaupt nicht. Wenn jeder Türgriff, jede Oberfläche potenziell Virusträger ist, dann ist fertig mit Risikobeurteilung und Handschuhe anziehen. Das reicht nicht, das Risiko ist einfach zu gross.
Hier liegt die eigentliche Herausforderung: Wir haben als Gesellschaft 200 Jahre lang gelernt, dass wir verantwortlich sind für unsere Lebensführung. In Arbeit, Partnerschaft und Freizeit streben wir nach Selbstverwirklichung. Und jetzt stellt Corona das ausser Kraft.
Auf einen Schlag sind wir nicht mehr als Einzelpersonen unterwegs, als kleine Ich-AGs, die sich in der Welt verwirklichen und ihre Risiken managen. Jetzt müssen wir uns einschränken und zu Hause bleiben, um die Infektionsketten zu unterbrechen.
Wird diese Kränkung des Egos nachhaltige Spuren hinterlassen?
Was sicher ist: Die psychischen Folgen dieser aktuellen Krise werden noch kommen, sie sind schon am Anrollen. Ich bin überzeugt, das wird noch grösser werden. Man muss abwarten.
Das Gespräch führte Pascal Derungs.