Ist unser Glaube an den technischen Fortschritt ein Irrtum? Die Coronakrise zeigt jedenfalls, dass unsere Gesellschaft trotz allen Fortschritts verletzlich ist. «Wir haben uns überschätzt», sagt der Philosoph und Physiker Eduard Kaeser. Er fordert ein Moratorium für technologische Forschung.
SRF: Das Leben in Westeuropa ist geprägt durch Stabilität und Sicherheit. Hat das Corona-Virus uns so stark getroffen, weil wir uns in einer falschen Sicherheit wähnten?
Eduard Kaeser: Wir wurden auf dem falschen Fuss erwischt. Es war eine Illusion zu glauben, wir hätten die hygienischen und technischen Mittel, um uns zu schützen.
Wir wähnten uns zudem in einer falschen Sicherheit, weil wir meinten, China sei weit weg. Wir sind mit China aber unglaublich stark vernetzt. Das merkt man nun plötzlich.
Sie sagten einst, bei technischen Geräten sollte man grundsätzlich davon ausgehen, dass sie nicht funktionierten. Wäre ein solches Denken auch in der aktuellen Lage hilfreich gewesen?
Auf jeden Fall. Ich bin eigentlich für einen «murksologischen» Paradigmenwechsel. Man sollte sich grundsätzlich darauf einstellen, dass technische Geräte und auch andere Dinge nicht funktionieren.
Man muss mit «unknown unknowns», mit unbekannten Unbekannten, rechnen. Wenn man mental für solch unerwartete Ereignisse gewappnet ist, kann man im Falle eines Eintretens vermutlich besser mit ihnen umgehen.
Es ist vermessen zu glauben, wir würden die Natur verstehen. Obwohl viele Prozesse der Natur sehr genau studiert wurden, haben diese offenbar immer noch ein Potenzial, das wir nicht verstehen und mit dem man vor allem nicht gerechnet hat.
Es überrascht, dass im Jahr 2020 ein Virus die ganze Welt lahmlegt. Sehen sie das als Bestätigung dafür, dass unser Vertrauen auf den technischen Fortschritt ein Irrglaube ist?
Nein, aber der Glaube an den technischen Fortschritt muss vielleicht etwas korrigiert werden. Es braucht ein Moratorium für technologische Forschung. Die Gesellschaft braucht Zeit, sich zu überlegen, welch komplexe technische Geräte und Software sie bisher bereits realisiert hat und in welch komplexer Welt wir leben.
Die technische und die natürliche Welt können heute gar nicht mehr getrennt voneinander gedacht werden, sie sind quasi hybrid. Eine Pandemie ist nicht nur ein Naturereignis, sie ist auch ein soziales, technisches und medizinisches Ereignis.
Ein Moratorium für technologische Forschung würde Raum zur Besinnung schaffen – Raum, um diese Zusammenhänge vertieft zu verstehen und neu zu lernen, dass wir Menschen Teil des Ökosystems sind.
Wir müssen aktuell lernen, dass uns die Natur nicht nur in Form von Waldbränden oder Überschwemmungen gefährlich werden kann, sondern auch auf mikroskopischer Ebene in Form eines Virus. Wir scheinen die Natur nicht kontrollieren zu können. Haben wir uns überschätzt?
Wir haben uns sicher überschätzt. Alle diese «Techno-Utopien», die ein Bild zeichneten, dass wir Menschen den Planeten nach Belieben für uns nutzen können, treffen einfach nicht zu.
Wir müssen lernen, uns an das Ökosystem anzupassen. Wir verhalten uns nicht adaptiv. Im Gegenteil: Wir agieren auf dem Planeten sehr explorativ, erobernd. Wir zwingen alle anderen Arten dazu, sich uns anzupassen. Das ist eine totale Überheblichkeit von uns Menschen.
Lernt die Gesellschaft aus den noch nicht abzuschätzenden Folgen der Pandemie?
Es gibt bereits Stimmen, die den Individualismus der Demokratie in Frage stellen. Es gibt Leute, die sagen, wir seien zu Individualismus und Egoismus erzogen worden und könnten Probleme nicht mehr gemeinsam lösen.
Das stimmt vielleicht bis zu einem gewissen Grad. Aber die aktuelle Situation ist auch eine Chance: Ich bin gespannt, zu wie viel Solidarität wir fähig sind.
Das Gespräch führte Pascal Meier.