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Debatte über Folter Rechtsphilosoph: «Auch Kindesentführern steht Würde zu»

Im TV-Drama «Feinde» von Ferdinand von Schirach geht es um die Frage, ob die Polizei einen Entführer foltern darf, um ein 12-jähriges Mädchen zu retten. Für Rechtsphilosoph Marcel Senn ist klar: Für das Folterverbot gibt es keine Ausnahme.

Marcel Senn

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Marcel Senn ist Schweizer Rechtshistoriker und Rechtsphilosoph und war von 1995 bis 2019 Professor für Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich. Von 2008 bis 2010 wirkte er als Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Marcel Senn hat insgesamt 158 Publikationen (mit)verfasst und ist seit 2019 emeritiert.

SRF: Gibt es im Strafverfahren eine Wahrheitsermittlung um jeden Preis?

Marcel Senn: Nein. Die Wahrheitsermittlung hat nach Regeln und nicht nach Beliebigkeit zu erfolgen. Im Strafverfahren sollen sich Ermittler und Beschuldigter nach dem Prinzip der Fairness begegnen, weil ein Unschuldiger keinen Schaden erleben darf.

Warum ist die Folter oder deren Androhung eine verbotene Vernehmungsmethode?

Die tatverdächtige Person muss sich im gesamten Strafverfahren nicht selbst belasten und darf weder von der Strafverfolgungsbehörde noch vom Gericht zur Mitwirkung oder zur Wahrheit verpflichtet werden. Also darf man sie auch nicht mittels Folter zu einer Aussage zwingen.

Rechtliche Lage zur Folter

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Folter gilt in der Schweiz als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Verbot der Folter ist in der Bundesverfassung (Art. 10 Abs. 3), im Strafgesetzbuch (Art. 264a Abs. 1 lit. f, 264c Abs. 1 lit. c) sowie im Militärstrafgesetz (Art. 109 Abs. 1. lit. f, Art. 111 Abs. 1 lit. c) festgehalten.

Neben anderen internationalen Abkommen verbietet auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) jede Art von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe in Art. 3. Ebenso die Genfer Konventionen und deren Zusatzprotokolle, welche die Folter als Kriegsverbrechen bezeichnen.

Das Folterverbot gilt als universelles und zwingendes Völkergewohnheitsrecht, das heisst, es gilt auch für Staaten, die keine Übereinkommen dazu ratifiziert haben.

Was macht die Folter moralisch und ethisch so problematisch?

Mit der Folter wird dem Menschen erhebliches physisches oder psychisches Leid zugefügt, so dass er in seiner Menschenwürde verletzt wird. Der Einsatz von Folter widerspricht der Kernaufgabe des Staates: Leben zu schützen.

Folter ist eine Leidzufügung, die die Menschenwürde verletzt.

In einem Verfahren muss man sich als beschuldigte Person im Sinne der Waffengleichheit wehren können, bei der Folter ist man indes dem übermächtigen Staat hilflos ausgeliefert.

Ferdinand von Schirach: «Feinde» nachschauen

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Legende: SRF/ARD

Im TV-Experiment «Feinde» wird eine Kindesentführung aus zwei Perspektiven erzählt. Der eine Film «Feinde – Gegen die Zeit» folgt dem Kommissar und «Feinde – Das Geständnis» folgt dem Anwalt während der Verteidigung des Entführers.

Beide Filme sind 30 Tage online auf srf.ch/film abrufbar.

Hat ein Kindesentführer seine Würde nicht verspielt?

Die Würde steht dem Menschen immer zu. Auch Kindesentführer dürfen daher nicht aus der Rechtsordnung ausgeschlossen werden. Dies wäre sonst eine Instrumentalisierung des Rechts im schlimmsten Sinne.

Eine unschuldige Person darf man nicht foltern, klar. Aber wie sieht es aus, wenn in der Untersuchung erhebliche Anhaltspunkte vorliegen, die auf eine Entführung hinweisen?

Brechen wir das Folterverbot in der Untersuchung auf, dann fluten wir die Möglichkeit, dass jederzeit gegen jedermann Folter angewendet werden kann. Soll das sein? Das ist dann kein Rechtsstaat mehr. Diesem reziproken Element gilt es folglich unbedingte Beachtung zu schenken.

Können wir Folter befürworten, wenn dadurch Leben gerettet werden?

Nein, der Staat muss seine Aufgaben erfüllen können, ohne sich der Folter zu bedienen. Nur dann ist er ein Rechtsstaat, sonst ist er ein Instrument der Machtpolitik, die nach Nützlichkeit entscheidet.

Wenn man in diesem heiklen Punkt Ausnahmen definiert und legalisiert, bräche irgendwann das Prinzip des Folterverbots in sich zusammen.

Nur ein Staat ohne Folter ist ein Rechtsstaat.

Es ist menschlich verständlich, dass für ein Entführungsopfer viel Sympathie mitschwingt. Affekte und Emotionen zugunsten des Opfers dürfen aber nicht dazu führen, dass Leid auf der anderen Seite zugefügt wird.

Wäre Folter gerechtfertigt, wenn damit die Interessen der Mehrheit geschützt würden?

Aus grundethischen Überlegungen betrachtet auf keinen Fall. Wir alle könnten ja aufgrund falscher Verdächtigung irgendwann in eine vergleichbare Situation geraten. So könnte Folter rasch fester Bestandteil von repressiven politischen Systemen werden.

Darf es in Extremfällen Ausnahmen vom Folterverbot geben, oder gilt das Folterverbot absolut? Ein fiktives Beispiel: Eine Vielzahl von Menschen wird durch eine Bombe mit tickendem Zeitzünder bedroht, die nur entschärft werden kann, wenn der gefasste Terrorist ihr Versteck preisgibt.

Das Verbot gilt absolut. Auch wenn jemand in dieser Extremsituation wahrscheinlich die Verantwortung für die Folter übernähme, stellt sie immer noch einen Rechtsbruch dar. Unter diesen besonderen Umständen könnte ein Gericht allenfalls auf Straffreiheit erkennen oder die Strafe mildern.

Das Gespräch führte Nicolas Zumsteg.

Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 03.01.2021, 11:00 Uhr ; 

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