Herr Huber, wie erlebte der radikale Sozialdemokrat Fritz Platten das politische System der Schweiz?
Peter Huber: Platten steht schon Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, seit Beginn seiner politischen Laufbahn in der Zürcher und Schweizer Arbeiterbewegung, in ständigem Konflikt mit dem politischen Establishment, das die Arbeiterbewegung niederhält und seine Forderungen abblockt. Für Forderungen und Errungenschaften, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, schlägt er sich bereits damals, und stösst bei den bürgerlichen Parteien auf Abwehr.
Die Schweiz mit ihren politischen Institutionen – der Bundesrat zum Beispiel ist zu jener Zeit rein bürgerlich zusammengesetzt – erlebt er nur sehr bedingt als Demokratie. Das Gefühl, dass dem Schweizer Arbeiter ein gebührender Platz im Land verwehrt werde, haben Platten und die breite Arbeiterbewegung gemeinsam.
Plattens Kurs war doch aber auch in den eigenen Reihen, insbesondere bei den Gewerkschaften, umstritten?
In der Arbeiterbewegung selbst erlebt Platten, wie sein forscher Kurs beim nationalen Gewerkschaftsapparat auf keine Gegenliebe stösst und gebremst wird. Der bedingungslose Abbruch des Generalstreiks von 1918 erscheint ihm als Verrat und Kapitulation vor dem Bürgertum: Platten fühlt sich fremd in der eigenen Bewegung und sieht in den russischen Revolutionären mit deren Oktoberrevolution von 1917 das Vorbild.
Führte der Abbruch des Generalstreik dazu, dass Fritz Platten auswanderte?
Der bedingungslose Abbruch trug dazu bei. Im Generalstreik kristallisierten sich enorme interne Spannungen heraus: Die Mehrheit der Gewerkschaftsführer stemmte sich gegen die Ausrufung, und als der Streik dennoch in Gang kam, war die Führung für einen möglichst schnellen Abbruch. Das vergiftete das Klima in der Arbeiterbewegung. Platten und seine radikalisierten Mitstreiter waren erbost über die Gewerkschaftsführung und sahen gleichzeitig, dass jene das Ruder in der Arbeiterbewegung in den Händen hatte.
Platten fühlte nach dem Generalstreik, dass «sein» radikaler Teil der Arbeiterbewegung auf verlorenem Posten stand und in der Schweiz kaum durchkommen würde mit seinen Forderungen.
Was zog ihn an der jungen Sowjetunion an?
Russland hat Platten schon immer in den Bann gezogen. Schon Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs und dem Generalstreik von 1918 bewegt er sich in Zürich in russischen Emigrantenkreisen, die vor dem Zarismus geflüchtet sind und in Zürich vom Sturz des Zarenregimes träumen und darauf hinarbeiten.
Bereits 1905 begibt er sich in deren Auftrag in einer Geheimmission ins Zarenreich, sitzt dort neun Monate in Haft und ist fasziniert von Land und Leuten. Etwas überspitzt und salopp gesagt: Er betrachtet es als moralischen Imperativ, auf den Sturz des Zarismus hinzuarbeiten, eines riesigen Zarenreichs, das damals als «Völkergefängnis Europas» gilt – insbesondere für einen Schweizer, der in diesem kleinen und übersichtlichen Land lebt und trotz Armut und sozialer Ungerechtigkeit privilegiert ist.
Platten war nicht der einzige Auswanderer.
Er war der Bekannteste, der 1923 den schweizerischen Zuständen den Rücken kehrte und im revolutionären Russland einen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten wollte. In den Jahren nach dem Generalstreik wanderten gegen 150 Kommunisten, zumeist aus den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Basel, in die Sowjetunion aus – im Glauben, dort nützlicher zu sein beim Aufbau einer gerechteren Gesellschaft.
Sie hatten wie Platten das Gefühl, in der Schweiz mit den minimsten Forderungen nicht durchzukommen und auf verlorenem Posten zu stehen. Diese Schweizer Kommunisten betrachteten es als einen Solidaritätsakt, nach Russland zu gehen. Es waren teilweise gut ausgebildete Berufsleute, die entschlossen waren, dem rückständigen Land beim Aufbau zu helfen. Viele sind Jahre später, als Stalins Zwangsregime fremde Spione witterte, wie Platten verhaftet worden und umkommen.