Der Schwyzer Autor Meinrad Inglin schildert in seinem «Schweizerspiegel» (1938) Veränderungsprozesse – gesellschaftliche wie individuelle. Er zeigt den Umbruch vom 19. ins 20. Jahrhundert. Eindringlich stellt er dar, wie das bürgerlich-liberale Europa untergeht und mit ihm das Gefühl der Sicherheit, der Glaube an Vernunft und Fortschritt, die Geborgenheit in festen Konventionen.
Inglin gibt ein äusserst differenziertes Bild des Bürgertums in allen seinen Facetten. Auch auf die Bauernschaft, die ebenfalls im Umbruch ist, wirft er aufschlussreiche Schlaglichter. Arbeiterschaft und Sozialdemokratie kommen zwar vor, sind aber unterbelichtet. Inglin kennt sie zu wenig.
Vom Kaiser zu den Bolschewiki
Das historische Panorama beginnt 1912 mit dem Besuch des deutschen Kaisers bei Schweizer Manövern. In den folgenden zwei Jahren wird die Kriegsgefahr immer konkreter. Die Schweizer Eliten nehmen diese zwar wahr, aber sie glauben es einfach nicht. Ein grosses Schützenfest – Inglin hat es erfunden – zeigt im letzten Moment noch einmal die Qualitäten der alten, untergehenden Schweiz.
Der Kriegsbeginn 1914 wird vielerorts begeistert bejubelt. Es folgen Grenzbesetzung und Aktivdienst. Inglin schildert dabei eine eigentümlich schweizerische Erfahrung: die Mobilisierung ohne wirklichen Einsatz. Die Vorgesetzten lösen Alarm aus, die Soldaten stürmen los, kampfbereit, todesbereit.
Vom Frust zum Hass
Und dann wird die Übung abgeblasen. Der Feind hat die Landesgrenze nicht überschritten, oder das Ganze war sogar nur ein Manöver. Der Frust der Soldaten entwickelt sich mit der Zeit zum Hass auf Militär und Krieg. Genährt wird das Gefühl auch durch die zahlreichen Verwundeten- und Gefangenentransporte, die die Schweiz durchqueren und das grauenhafte Gesicht des Krieges zeigen.
Beiträge zum Thema
Der Konflikt zwischen germanophilen Deutsch- und frankophilen Welschschweizern hält das Land in Atem. Erst allmählich überlagert der Klassenunterschied diesen nationalen Gegensatz. In der Arbeiterschaft werden pazifistische und sozialistische Tendenzen stark. Eine Grippeepidemie fordert zahlreiche Tote. In Russland kommen die Bolschewiki an die Macht, und in der Schweiz wird ein Generalstreik ausgerufen.
Eine Schweizer Familie
Inglins Romanfiguren sind charakterstark und dennoch unberechenbar. Man verwechselt sie nicht, weiss aber nie genau, wie sie auf den nächsten Seiten sich verhalten werden. Fast keine von ihnen ist rein sympathisch oder ganz unsympathisch.
Im Zentrum steht die Familie des freisinnigen Nationalrates Alfred Ammann, der im Verlaufe der Erzählung trotz versöhnlicher Untertöne gründlich abgebaut wird. Er zerbricht vor allem an den rechtsradikalen Tendenzen, verkörpert durch seinen eigenen Sohn Severin – Tendenzen, die er selbst und der gesamte Freisinn so lange nähren, bis sie ihnen über den Kopf wachsen.
Der zweite Sohn, Paul, ist der Intellektuelle: kritisch, von der Welt angewidert, kriegsbegeistert anno 1914, Sozialist anno 1918. Der dritte Sohn, Fred, ist unpolitisch und unsicher, er geniesst den Drill in der Armee und wird schliesslich Landwirt.
Zwei grossartige Frauenfiguren
Ammanns Frau Barbara ist streng konservativ und führt ein strenges Regiment gegen Abtrünnige wie ihre Tochter Gertrud, die sich scheiden lässt, und ihren Sohn Paul, der Sozialist wird. Aber sie lehnt den Krieg konsequent ab. Schliesslich entwickelt sie sich auch für ihre beiden abtrünnigen Kinder zu einer energischen, mütterlichen Unterstützerin.
Bei der Organisation der Gefangenen- und Verwundetenhilfe leistet sie Enormes. Sie ist auf ihre Art eine grosse humanistische Liebende. Ihre Tochter Gertrud verkörpert einen neuen Frauentypus: selbstbestimmt, selbstbewusst, mutig, tapfer und sensibel.
Die Zukunft der Schweiz
Von grösster Aktualität sind Inglins grundsätzliche Gedanken zur Schweiz. Er versteht das Land als Produkt der europäischen Aufklärung und will es modernisieren. Die Schweiz ist ihm nicht nur ein Europa im Kleinen. Vielmehr verteidigt er ein rationales Staatsverständnis gegen die irrationale Vergötterung des Landes.