Angst vor dem Fremden – Aussicht auf mehr Wohlstand durch Fortschritt. Zwischen diesen beiden Polen wurden vor rund 100 Jahren die Bewohner des Oberbaselbieter Bauerndorfs Tecknau hin und her gerissen. Diese Zerrissenheit zeichnet Traugott Meyer in einem grossen Panoramabild mit unzähligen Miniaturen literarisch nach. Und diese Kämpfe zwischen «Alt» und «Neu» erhalten den Mundartroman «S Tunälldorf» bis heute modern und aktuell.
Die grosse Welt bricht über das kleine Dorf herein
Ein Tunnel für die Eisenbahn soll gebaut werden, gleich hinter Tecknau ist das Portal vorgesehen. Die Linie von Basel nach Olten – und damit die grosse europäische Verkehrsachse von Norden nach Süden – soll durch das abgelegene, schmale Tal führen. Im Dorf wird für vier Jahre eine riesige Baustelle entstehen. Und danach werden lärmige Züge dafür sorgen, dass es in Tecknau nie mehr Ruhe gibt.
Gegen diese Pläne sperrt sich der Grossbauer und Gemeindepräsident von Tecknau, der Oberheirech. Und mit ihm diejenigen, die sich vor dem Neuen fürchten; die Angst haben vor dem Verlust der Eigenart, der Heimat: «Mitem Bahnbou chöme Fröndi. Men isch nüm dehei.»
Die Jungen, allen voran des Oberheirechs Jüngster, Walter, erhoffen sich Erneuerung und Fortschritt von der Bahn: «Derno sy mer nüm wie ime Chefi, müesse nüm im olte Tramp tschiengge, gsäje Neus, und s Läbe lauft lychter.» An einer Versammlung erinnert Walter daran, wie es vor ein paar Jahren war, als das Elektrische kam: dieselben Bedenken. Und heute wolle es keiner mehr missen.
Der braune Strich im Tal
Aber weder das tiefe Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn noch die Spaltung der Gemeinde verhindern die Bahn. Höhere Mächte haben längst entschieden. Das fruchtbare Land wird aufgerissen, Bäume entwurzelt, eine tiefe, braune Narbe zerfurcht das heimatliche Tal. Arbeiterbaracken werden gebaut, Kantinen, ein Kino, ein Verkaufsladen. Und italienische Gastarbeiter, für den Tunnelbau geholt, bevölkern plötzlich das Dorf.
Damit nicht genug: 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Die Männer rücken zum Grenzdienst ein. Aus dem Ausland treffen die schlimmsten Kriegsmeldungen ein. 1915 müssen die Gastarbeiter zurück nach Italien reisen, in den Krieg. Dann die Spanische Grippe. Der Landesstreik. Der Generalstreik in Basel. Auch das abgelegene Tecknau wird geschüttelt von diesen Stürmen der Zeit zwischen 1912 und 1919.
Der Mundartroman als politisches Statement
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Traugott Meyer verwebt historisches Weltgeschehen, dörfliches Leben und eine fiktive Familiengeschichte zu einem grossen Panorama der Schweiz vor 100 Jahren. Meyer, Jahrgang 1895, stammte aus Wenslingen, einem Nachbardorf Tecknaus. Er wusste genau, wovon er schrieb. Den Roman entwarf er 1928, als er bereits in Muttenz am Stadtrand Basels als Lehrer tätig war. Veröffentlicht wurde «S Tunälldorf» 1938. Die Bedrohung durch Nazideutschland gab damals der Frage nach dem Umgang mit dem Fremden und dem Rückzug auf das Eigene eine existenzielle Note. Ein politisches Statement war auch das Schreiben in Mundart: Bekenntnis zum Eigenen, Schweizerischen. Distanz zu Deutschland.
Meyer konserviert die Sprache seiner Mutter
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Aber Traugott Meyer schrieb vor allem aus Leidenschaft den unerhört wortreichen und bildhaften Oberbaselbieter Dialekt des 19. Jahrhunderts, den er von seiner früh verstorbenen Mutter geerbt hatte. In Zettelkasten konservierte er die Sprache seiner Mutter und setzte sie für seine Literatur ein: Für seine Gedichte und Erzählungen ebenso wie für seine zwischen 1938 und 1942 vom Radiostudio Basel ausgestrahlte Sendung «S Bottebrächts Miggel verzellt» und für die zwei grossen Romane «Dr Gänneral Sutter» und «S Tunälldorf». Alle diese Werke haben eines gemeinsam: Es sind sprachliche Meisterwerke.
Tecknau ist heute ein ruhiges, unspektakuläres Dorf mitten im ländlichen Oberbaselbiet. Die Hauensteinlinie, die am Dorf vorbei führt, ist eine der meistbefahrenen Eisenbahnstrecken der Schweiz. «Tradition» und «Moderne» sind sich hier ganz nah.