Am Anfang stand die Kriegsbegeisterung. Ganze Heerscharen von Männern jubelten förmlich, als der Krieg endlich begann. Jetzt konnte man einstehen fürs Vaterland. Kurz sollte die patriotische Pflicht dauern. «An Weihnachten sind wir wieder zurück». Nach ein paar Wochen, höchstens Monaten sei der Krieg vorbei, so wähnte man.
Das war alles falsch. Die Männer, die fürs Vaterland kämpfen gingen, waren selber meist Väter. Die jüngeren liessen Geschwister zurück, die noch nicht kriegstauglich waren. Sie verbrachten mit ihren Müttern und anderen Frauen jene Weihnachten 1914 allein. Der Krieg dauerte vier Jahre und mutierte bald zum grossen europäischen Abschlachten.
Briefe von der Front
Die Jüngsten jener bruder- und vaterlosen Gesellschaft sind die Hauptfiguren in den Romanen, die 2014 pünktlich zum Gedenkjahr erschienen sind. Selber sind sie Beobachter, nehmen präzise wahr, was sich um sie herum verändert, langsam, manchmal unmerklich. Und sie sind es, die nicht verstehen was vor sich geht – und es in Frage stellen. Vom «Menschenschlachthaus» erfahren sie in Briefen, die ihnen ihre Väter und Brüder von der Front schicken.
«Hier zeigen die Romane ein genaues Abbild damaliger Zustände», sagt Historiker Fabio Crivellari von der Universität Konstanz. Zu Beginn des Krieges sei man in allen beteiligten Ländern auf diese Form der Berichterstattung angewiesen gewesen - wenn man von der Front andere Informationen als die offiziellen Stellungnahmen haben wollte.
Doch auch die Feldpostbriefe seien damals gefiltert und manchmal sogar zensiert worden. Erst später, mit den Frontheimkehrern und Urlaubern, hätten die Daheimgebliebenen mündlich vom Geschehen erfahren.
Überschattet vom Zweiten Weltkrieg
Wie aber nun erzählt man Kindern und Jugendlichen überhaupt vom Krieg? Lange sei gar keine solche Literatur vorhanden gewesen, stellt Elisabeth Eggenberger vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien fest. Einen Grund dafür sieht die Literaturwissenschaftlerin darin, dass vor allem über den Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde – diese Geschichten hätten den Ersten Weltkrieg als Thema in der deutschsprachigen Literatur überschattet.
Der jetzige Boom von Kinder- und Jugendbüchern schliesst diese Lücke. Dass ein Boom eingesetzt habe, sei einfach zu erklären, meint Elisabeth Eggenberger. Veröffentlichungen in der Kinder- und Jugendliteratur richteten sich immer stark nach dem öffentlichen Diskurs. Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs sei dieses Interesse garantiert.
Das Schicksal der einfachen Soldaten
Die Romane nehmen praktisch immer eine kriegskritische Perspektive ein. In allen Werken spürt man die pazifistische Grundhaltung der Autorinnen und Autoren. Kriegsbegeisterung und auch Nationalismus, aufkeimende Judenfeindlichkeit werden in Nebenfiguren thematisiert: Dem Nachbarn werden die Scheiben des Geschäfts beschmiert, die Klassenkameradin ist plötzlich weg, weil sie in einem (englischen) Lager interniert ist.
Eine weitere Entwicklung hat Kinder- und Jugendliteratur über den Ersten Weltkrieg den Weg geebnet: In den 1970- und 80er Jahren habe in der Forschung ein Umschwung stattgefunden, betont Historiker Fabio Crivellari: «Man ist davon weggekommen, die grossen Staatsaktionen nachzuzeichnen, sondern hat sich den Schicksalen der einfachen Soldaten zugewandt.» Mit dieser Verlagerung der Perspektive habe man die Voraussetzung zur Vermittlung geschaffen: Kinder und Jugendliche verstünden Schicksale von einfachen Leuten besser, als jene von Feldmarschällen und Königen.
Tod und Gräuel des Krieges begreifen
Und so treffen Leserinnen und Leser von Kinder- und Jugendbüchern auf Gleichaltrige, die durch ihre Augen die Gräuel des Krieges zu begreifen suchen. Sie sind Beteiligte, jedoch nicht an der Front. Sie fürchten um Väter und Brüder und werden konfrontiert mit Sterben und Verstümmelungen. En passant erfahren die Lesenden auch viel über die Atmosphäre im Europa zu Beginn des letzten Jahrhunderts – und was es hiess, damals Kind zu sein.