Seit Jahrtausenden gehören ansteckende Krankheiten zu den Bedrohungen der Menschheit. Aber die Seuchenzüge schieben auch Veränderungen an: Kanalisationen werden gebaut, Gesundheitsprogramme und Wohnreformen aufgesetzt. Vergangene Seuchenzüge haben unser Leben und unsere Städte geprägt.
Zugang zu sauberem Wasser
Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist die Pest ein ständiger Begleiter der Menschen Europas. Die grossen Pestzüge wüten im späten Mittelalter bis zur frühen Neuzeit vor allem und zuerst in Städten.
Für die Entwicklung mittelalterlicher Städte ist eine gute Wasserversorgung zentral. Nach Pestzügen bemühten sich deshalb die Stadtverwaltungen, den Zugang zu Wasser zu verbessern, sagt der Umwelt- und Stadthistoriker Dieter Schott.
Während die Besitzer grösserer Häuser eigene Brunnen besitzen, stellen Obrigkeiten in ärmeren Vierteln Zieh- und Schöpfbrunnen zur Verfügung.
So etwa in Zürich: Die Schöpfräder auf den Limmatbrücken werden von Anwohnern genossenschaftlich genutzt und betrieben. Gemeinsam unterhält und reinigt man die Brunnen. Und man kontrolliert sich gegenseitig.
Die Brunnentechnik wird verfeinert, Brunnenmeister werden zu hoch angesehenen Spezialisten. Die Wasserversorgung sei der «Prüfstein für die gute Amtsführung einer Stadtregierung», so Dieter Schott.
Städte im Aufschwung
Das pestbedingte Massensterben führt gemäss Schott zu paradoxen Entwicklungen. Die Überlebenden des «Schwarzen Todes» haben bessere wirtschaftliche Bedingungen: Viele Häuser stehen leer und können daher günstiger erworben werden. Gesellen und Handwerker erhalten bessere Löhne, weil sie gesucht sind.
Die entleerten Städte versuchen, mit Schulen und Universitäten Menschen anzulocken. Insgesamt führt die Pest mittelfristig zu einem Aufschwung der Städte. Auf der mentalen Ebene kommt es zu einer Orientierung der Menschen auf das Diesseits: «Wenn sie schon sterben müssen, dann wollen sie wenigstens davor gut leben», sagt Schott.
Seuchen treffen die Schwachen
Ansteckende Krankheiten sind in der Regel nicht blind. Das bedeutet: Sie treffen meist die gesundheitlich Schwächeren in der Gesellschaft – und jene, die sich ein gesundes Leben nicht leisten können.
Sie raffen anfällige Menschen dahin, weil deren Abwehrkräfte angeschlagen sind, wegen prekärer Lebensbedingungen, fehlendem Zugang zu sauberem Wasser oder Hungersnöten. Dies gilt besonders auch für die Cholera-Epidemien während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.
Cholera in den Arbeitervierteln
Den zeitgenössischen Medizinern war die Übertragung der Cholera ein Rätsel. Die Krankheit breitet sich in den Arbeitervierteln von Industriestädten aus. Dort, wo viele Menschen in engen, dunklen Räumen auf feuchtem Boden leben. Dort, wo es kaum Latrinen und sauberes Wasser gibt – stattdessen Gestank und Hunger.
Aufgrund dieser Beobachtungen erhält die «Miasmen»-Theorie Aufschwung: Mediziner sind überzeugt, dass Feuchtigkeit, Ausdünstungen und Gestank in der Luft die Menschen krank machen. In den betroffenen Vierteln wird der Zustand der Plätze und Wohnungen kartografiert.
So entsteht in Grossbritannien der Ansatz einer umfassenden «public health», einer öffentlichen Gesundheitsvorsorge. In London versucht man zunächst, den Umgang mit Armut und Krankheiten auf technische Sanierungsprojekte zu reduzieren.
Sinnvolle Reformen trotz falscher Theorien
Die Behörden legen feuchte Wohngebiete trocken und bauen Abwasserkanäle, um Fäkalien aus dem Wohnumfeld zu entfernen. Auch der Zugang zu frischem Wasser wird verbessert. Man tut also Sinnvolles, aber aufgrund einer falschen wissenschaftlichen Theorie, wie Dieter Schott erläutert. Weitergehende soziale Reformen hingegen bleiben aus oder werden zurückgestellt.
Der Mediziner Robert Koch entdeckt 1884 das Cholerabakterium. Erst jetzt wird klar: Die Krankheit verbreitet sich weder über die Luft noch durch übel riechende Feuchtigkeit, sondern über das Trinkwasser. So wird Robert Koch als einer Art «Krisenmanager» nach Hamburg entsandt. Dort wütet 1892 eine Choleraepidemie besonders heftig.
Fetisch «Hygiene»
In europäischen Städten werden nun nicht nur Wasserversorgung und Abwasserkanalisationen im grossen Stil vorangetrieben. Die Hygiene wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum zentralen Fetisch und beherrscht die gesellschaftliche Debatte.
Zahlreiche Handbücher definieren Vorgaben, wie Schlachthöfe, Schulhäuser oder öffentliche Toiletten auszusehen haben. Die neuen Hygiene-Vorstellungen diktieren Vorgaben für Wohnreformen: Licht, fliessendes Wasser und Aborte sollen die Verbreitung ansteckender Krankheiten verhindern.
Alltagspraktiken werden verschwinden
Und heute? Noch ist das Wissen zur Übertragungsart, Impfung und Behandlung von Covid-19 lückenhaft. Doch mit der Pandemie ist der Gesundheitsschutz durch Hygiene innerhalb kürzester Zeit allgegenwärtig geworden. Weltweit werden Hände gewaschen, desinfiziert, man trägt Schutzmasken und übt Distanz zu den Nächsten und in der Öffentlichkeit.
Zahlreiche Alltagspraktiken werden verschwinden, neue entstehen, ist Historiker Schott überzeugt. «Die Küsschen-Begrüssung in Europa ist historisch gesehen auch erst etwa 30 Jahre alt. Das neue Distanzhalten verändert das öffentliche Leben. Die Gefahr ist, die Anderen sofort als potenzielle Gefahr wahrzunehmen.» Zu welchen Innovationen die Covid-19-Pandemie führt, wird im Rückblick zu beurteilen sein.