Woher kommt die seltsame Sehnsucht nach einer jüdischen Vergangenheit? Man kann nur mutmassen, weshalb ausgerechnet eine promovierte Historikerin wie Marie Sophie Hingst öffentlich vorgab, eine Familie im Schatten des Holocausts zu haben.
Parallelen zu einem Fall in der Schweiz
Der Zürcher Historiker Stefan Mächler sieht einige Parallelen zum Fall von Bruno Dössekker, den er damals in einer Studie untersucht hatte. Dössekker gab 1995 beim Suhrkamp Verlag unter dem Namen Binjamin Wilkomirski seine angeblichen Erinnerungen als Überlebender der Judenvernichtung heraus. Das Buch mit dem Titel «Bruchstücke» wurde zunächst hoch gelobt – ähnlich wie der preisgekrönte Blog von Marie Sophie Hingst.
«Beides Mal hat das Publikum mitgespielt», sagt Stefan Mächler. «Hingst und Dössekker sind wahrscheinlich beide geltungssüchtig. Beide haben eine grosse Fantasie und sind im Grenzbereich zur Literatur tätig. Das ist typisch für solche Fälle, dass man das irgendwie künstlerisch umsetzt. Und bei beiden fällt auf, dass sie sich eine grosse Solidargemeinschaft geschaffen haben.»
Mix von Betrug und Selbstbetrug
Glaubten die Autoren irgendwann selbst an ihr Erzählkonstrukt – oder betrogen sie das Publikum bewusst? Das lässt sich nicht eindeutig beantworten, sagt Mächler.
«Aus Sicht des getäuschten Publikums ist das natürlich Betrug. Die Psychiatrie hat früher von Pseudologen gesprochen. Wenn man vergleichbare Fälle anschaut, dann gibt es einen typischen Mix von Betrug und Selbstbetrug.»
Der Gewinn der Lüge
Was im Einzelfall pathologisch begründet ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Interessanter ist die Frage, weshalb es so attraktiv ist, sich als Holocaust-Opfer darzustellen.
«Wenn man eine solche Geschichte erzählt, dann hat man viel Gewinn: Man wird zur moralischen Autorität. Man ist Experte, weil man zu diesem Grossverbrechen, das bis heute so viele unlösbare Fragen aufwirft, persönliche Antworten geben kann. Das ist auch für die Medien interessant.»
Fokus auf die Opfer
In den Medien sind Auftritte von Zeitzeugen, so Mächler, zunehmend wichtig geworden. Dass die Opfer der Judenverfolgung öffentlich wahrgenommen werden, sei zwar sehr wichtig und nicht immer so gewesen, betont er. Doch die Fokussierung auf die Opfer hat eine Kehrseite.
«Das kann zur Überidentifikation führen, oder dazu, dass man sich nur noch mit den Opfergeschichten befasst. Das sehe ich kritisch, gerade beim Umgang mit der Vergangenheit in Deutschland: Dieser ist seit den 1980er-Jahren vollkommen opferzentriert.»
Aus den Tätergeschichten lernen
Dadurch rückt die Auseinandersetzung mit den Tätern in den Hintergrund. «Gerade für eine Tätergesellschaft wäre es ja viel wichtiger, man würde sich mit der Geschichte der eigenen Vorfahren befassen, als die Seite zu wechseln, was einen moralischen Gewinn gibt. Aus den Tätergeschichten hingegen könnte man viel lernen, weil wir alle zu Tätern werden können.»
Doch es ist bequemer, beim Mitgefühl mit den Opfern zu verweilen, als sich damit zu befassen, wie normale Menschen zu Tätern und Mitläufern werden können.
Strategie der Vermeidung
«Wilkomirski und jetzt die Bloggerin Marie Sophie Hingst sind ein Effekt dieser Opferzentrierung. Diese ist auch eine Vermeidungsstrategie, um sich nicht mit den Tätern auseinanderzusetzen.»
Das rechtfertigt keine erfundenen Opfergeschichten. Es trägt aber zum Verständnis bei, weshalb solche Erzählungen vom Publikum und von den Medien so bereitwillig umarmt werden.