Ich schaue zu, wie er das Glas in den Geschirrspüler stellt. Wie in Zeitlupe kommt es mir vor. In mir drin zieht sich alles zusammen. Er will nur helfen, beruhige ich mich, ich werde es später an den richtigen Ort stellen. Obwohl ich weiss: Das Glas würde auch so problemlos sauber werden.
Wunsch nach Kontrolle
«Meine Wohnung, mein System», lacht die Psychologin Fanny Jimenez, als ich ihr von meinem Spleen erzähle. «Dahinter steckt das Bedürfnis nach Kontrolle.» Nicht im Sinne von Dominanz oder Rechthaberei. Es geht darum, der Umwelt seinen eigenen Stempel aufzudrücken.
Das Gefühl nach Kontrolle ist ein Grundbedürfnis von uns Menschen. Das besagt die Konsistenz-Theorie des deutschen Psychologen Klaus Grawe, erklärt mir Fanny Jimenez. «Wenn dieses Grundbedürfnis nicht genügend befriedigt ist, entsteht Angst, Hilflosigkeit und Unsicherheit.»
Mein Spleen mit der Abwaschmaschine gibt mir also im Kleinen das Gefühl von Kontrolle und stabilisiert dadurch meine Psyche. Genau wie viele andere Eigenheiten, die sich im eigenen Zuhause zeigen: Wäsche der Grösse nach zum Trocknen aufhängen zum Beispiel, oder den Regler der Stereoanlage immer auf eine ungerade Zahl stellen.
Die Spleens im Graubereich
In ihrem Buch «Ich und mein Spleen» hat Fanny Jimenez zahlreiche Eigenheiten unter die Lupe genommen. Das ist zwar schon sieben Jahre her, trotzdem hat das Thema für sie nicht an Relevanz verloren: «Es ist wichtig, dass wir über psychische Erkrankungen sprechen. Solange man nicht über-pathologisiert.» Und das passiere in der medialen Berichterstattung zu oft, fügt sie an.
Wenn am Esstisch eine Messerspitze auf mich zeigt, baue ich Barrikaden ein.
«Nur weil jemand etwas macht, was ein anderer nicht versteht, heisst das noch lange nicht, dass mit demjenigen etwas nicht stimmt», sagt die Wissenschaftsjournalistin. Deshalb mag sie die Spleens, jene Eigenheiten im Graubereich zwischen «normal» und «psychisch krank».
Barrikaden am Esstisch
Auch Fanny Jimenez hat einen Spleen. Sie hat ein Problem mit Messern: «Wenn am Esstisch eine Messerspitze auf mich zeigt, finde ich das unglaublich unangenehm. Ich baue dann Barrikaden ein. Ich stelle den Brotkorb oder die Wasserflasche davor oder stupse die Spitze an, damit sie nicht mehr direkt auf mich zeigt.»
Auch ihren eigenen Spleen hat sie analysiert, besser gesagt: analysieren lassen, von einem Psychologieprofessor der Humboldt-Universität: «Das ist ganz normal, das passiert», sagte er zu ihr, «das ist nur eine Vorsichtsmassnahme des Gehirns». Messer sind potenziell gefährliche Gegenstände. Das Gehirn registriert das und trifft Vorkehrungen.
In diese Kategorie fällt auch ein Spleen, den Fanny Jimenez bei ihren Recherchen immer wieder angetroffen hat: Frauen, die ihre Haare beim Autofahren immer zusammenbinden. Damit sich diese bei einem Unfall nicht verheddern und sie einfacher geborgen werden können. Der Spleen als Schutzmassnahme also.
Habe ich den Herd angelassen?
Wenige Tage vor dem Gespräch mit der Psychologin oute ich mich mit meinem Geschirrspüler-Spleen in der Redaktionssitzung. Und siehe da: Ich bin in guter Gesellschaft. Meine Kollegin Anna Kreidler hat auch einen Spleen aus der Kategorie der Vorsichtsmassnahmen: Sie muss oft zurück in die Wohnung, um zu schauen, ob der Herd auch tatsächlich ausgeschaltet ist.
Beim Warten in Praxen zählen Leute gerne die Stühle oder die Fenster des Gebäudes gegenüber.
Kollegin Beatrice Gmünder gehört zu den Autobahn-Rechnerinnen. Immer, wenn sie im Stau sitzt, beginnt sie, die Quersummen von Nummernschildern zu errechnen. «Wenn das Resultat durch neun teilbar ist, freue ich mich riesig.»
Hilfestellung fürs Gehirn
Fanny Jimenez kennt diesen Spleen gut und hat ähnliche angetroffen: «Beim Warten in Praxen zählen Leute gerne die Stühle oder die Fenster des Gebäudes gegenüber.»
Auch solche Zahlen-Spleens haben eine Funktion: Das Gehirn ist perfekt darauf trainiert, Muster, Strukturen und Zusammenhänge in der Umwelt zu erkennen. Es wird nervös, wenn nicht alle drei Sekunden ein neuer Eindruck von aussen kommt, den es begutachten und einordnen könnte.
Wer zählt, der denkt, ohne wirklich zu denken, erklärt Fanny Jimenez. Trotzdem beschäftigt er seinen Kopf. Zwar nur ein bisschen, aber gerade genug, damit dieser überzeugt ist, etwas Wichtiges zu tun zu haben.
Kein Spleen? Gibt’s nicht!
Mein Redaktionskollege Matthias von Wartburg sagt von sich selbst: «Ich bin spleenfrei». «Glaub ich nicht!» Fanny Jimenez Antwort kommt wie aus der Kanone geschossen. Sie ist überzeugt: «Jeder Mensch hat einen Spleen.» Nur manchmal weiss er selbst nichts davon.
Diese Erfahrung hat die ehemalige «Die Welt»-Journalistin bei ihrer Kolumne gemacht, in der sie die Spleens ihrer Leserinnen und Leser gesammelt und analysiert hat. Nicht selten hat sie die Marotten von Angehörigen zugeschickt bekommen, nicht von den Betroffenen selbst.
Emotionale Anker
Spleenfrei gebe es nicht, sagt Fanny Jimenez. Gewisse Menschen seien aber anfälliger auf schrullige Angewohnheiten. Menschen etwa, die oft alleine seien.
Der Grund: Menschen, die uns nahe sind, fungieren für unsere Psyche als eine Art emotionaler Anker. Wenn es uns nicht gut geht, wenden wir uns an diese Menschen, nur schon ihre Anwesenheit reduziert unsere Unsicherheiten und Ängste.
Wer keinen emotionalen Anker in der unmittelbaren, räumlichen Nähe hat, muss kompensieren. Bei grösseren Problemen hilft das Telefon. Bei kleineren und diffuseren Unsicherheiten im Alltag kümmert sich aber das Gehirn ganz selbständig darum – mit einem Spleen.
Abgrenzung zur Zwangsstörung
Meine Kollegin Anna Kreidler erzählt mir, dass sie jeweils ein Foto macht von ihrem Herd. Tagsüber kann sie das Foto anschauen und ist beruhigt: Der Herd ist tatsächlich ausgeschaltet. Ob das nicht ein bisschen problematisch sei, frage ich Fanny Jimenez. «Überhaupt nicht», lacht sie. «Ich finde das ziemlich clever.»
Problematisch wird eine schrullige Angewohnheit dann, ergänzt sie, wenn man darunter leidet oder der Alltag dadurch beeinträchtigt wird. Dann also, wenn es in Richtung Zwangsstörung geht und man nicht nur einmal, sondern zehnmal kontrollieren muss, ob der Herd auch wirklich ausgeschaltet ist.
Der Spleen als guter Freund
Wenn man mit seinem Spleen also weder sich selbst noch anderen schadet, dann ist es nicht nur okay, einen zu haben, sondern sogar gesund.
Er stabilisiert die Psyche: Er bereitet uns auf potenzielle Gefahren vor, schützt unser Gehirn vor Leerlauf, entspannt uns. Er hilft uns, Ängste auszuhalten und gibt uns das Gefühl von Kontrolle.
Der Spleen kommt ganz automatisch, ohne dass wir etwas dafür tun müssen. Fast wie ein guter Freund, der einfach da ist, wenn man ihn braucht.