An einem kalten Aprilmorgen geriet ich auf dem Weg ins Radiostudio in einen Schneesturm. Ich kämpfte mich den Weg entlang. Durch das Getöse der aufgebrachten Natur hörte ich das Brüllen von Baumaschinen.
Die Baustelle war neu, sie musste während meiner Ferien in Betrieb genommen worden sein. Furcht ergriff mich: Keine Chance, die Situation einzuschätzen.
Kompass im Sturm
Ich fuhr meinem Hund Aslan übers Fell und schrie, so zuversichtlich ich nur konnte, gegen den Sturm an: «Avanti!» Der Körper von Aslan straffte sich, ich spürte es ganz deutlich über den Bügel des Führgeschirrs.
Zielstrebig und mit hocherhobenem Schwanz führte mich mein Hund über verlegte Planken, schwenkte gekonnt um Barrieren und ging in einem weiten Bogen auf die Hauptstrasse zu.
Als wir endlich durchnässt ankamen, setzte ich mich mit weichen Knien hin. Aslan sprang um mich herum, als wolle er sagen: «Schon fertig? Schade, jetzt ging doch endlich einmal so richtig die Post ab!»
Pfadfinder mit Pfoten
Ich hatte meinem Hund keine Anweisungen geben können, wie er am besten über die lärmige Baustelle kam. Er hatte den verlegten Fussgängerweg gesehen und war ihm kurzerhand gefolgt. Dass er dabei einen Umweg machen musste, brachte ihn nicht aus dem Konzept.
Selbständig Entscheide zu fällen, ohne dass der Hundehaltende ihn dabei unterstützen kann: Genau das macht den Führjob zur Königsdisziplin.
An einem anderen Morgen stoppte mein Hund kurz vor dem Radiostudio plötzlich mitten auf dem Trottoir. Er machte Anstalten, nach links ins Gebüsch zu gehen. Er hatte aber gerade gepinkelt. Im Geschirr wäre Pinkeln ohnehin Tabu.
Unerschrockener Vierbeiner
Weshalb also ins Gestrüpp, wo doch das Trottoir vor uns lag? Ich befahl «Avanti», doch der Hund blieb stehen und zeigte wieder nach links. Nach rechts auf die Strasse ausweichen konnte er nicht, das Trottoir war durch ein Geländer begrenzt.
Barsch gab ich zum dritten Mal den Befehl. Mit dezidiertem Schwung zog er mich ins Gebüsch. Ich verlor den Halt und fiel hin. Da stimmte doch etwas nicht.
Als ich wieder stand und mir Laub und Schmutz von den Kleidern geklopft hatte, streckte ich meine Hände aus. Vor meinem Kopf stand ein Baustellenschild, mitten auf dem Trottoir. Der Hund hatte mir dieses Höhenhindernis angezeigt, unter dem er selbst locker hätte durchgehen können. Ich hingegen hätte mich am Kopf verletzt. Ich schämte mich, dass ich nicht von Anfang an begriffen hatte, dass hier kein Durchkommen war.
Es braucht viel Geduld, einem Blindenführhund beizubringen, dass er vor Hindernissen stoppt, die für ihn keine sind. Eine weitere schwierige Aufgabe im Pflichtenheft eines Blindenführhundes.
Vertrauen, das Grenzen sprengt
Mich beeindruckte an der Geschichte noch etwas anderes: Mein Hund hatte den Gehorsam verweigert, weil er wusste, dass mein Befehl Nonsens war. Das zeugte von grossem Vertrauen mir gegenüber, und es freute mich ungemein.
Vertrauen ist das A und O in der Zusammenarbeit zwischen blinder Person und Hund. Vertrauen wächst, es braucht Zeit und Geduld. Wenn ich Aslan, der im Gegensatz zu mir sieht, blindlings vertraue, kann er über sich hinauswachsen.
Vielleicht ist dieses einmalige Teamwork ein Geheimnis, das sich unseren Erklärungsversuchen und Worten entzieht. Schön ist es allemal, frohgemut und in sattem Tempo durch belebte Strassen zu eilen und aufs Tram zu rennen wie ein Augenmensch.