Seit 56 Jahren ist Wolfgang Schäuble Mitglied der CDU. Seit 49 Jahre politisiert er bereits im Bundestag. Heute ist er Präsident des Bundestages. Wir haben mit ihm über die aktuelle Stimmung in Deutschland und über das Vertrauen der Bevölkerung während der Corona-Krise gesprochen.
SRF: Ist das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Politik durch Corona erschüttert worden, Herr Schäuble?
Ich glaube, eher im Gegenteil. Das Zutrauen in die Handelnden, in unseren freiheitlichen Rechtsstaat ist enorm gestiegen. Die Menschen haben auch wieder gesehen, dass wir ein leistungsfähiges Gesundheitswesen haben.
Wir können zwar nicht verhindern, dass Menschen sterben. Wir können nicht verhindern, dass Verbrechen passieren. Aber wir müssen grundsätzlich in der Lage sein, Sicherheit zu gewährleisten. Wenn der Staat davor kapitulieren muss, dann ist es Staatsversagen. Das ist in Deutschland nicht der Fall.
In der zweiten Pandemie-Welle im letzten Herbst habe ich eine gewisse Untertanen-Mentalität beobachtet. CSU-Chef Markus Söder hat zur Bevölkerung gesprochen, als ob sie Kinder wären, die ohne Nachtessen ins Bett müssen. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Die einzelnen Politiker drücken sich zum Teil unterschiedlich aus. Sie haben übrigens gesehen, dass auch die Popularität von Markus Söder während der Pandemie sehr gestiegen ist. Trotzdem haben sich CDU und CSU für einen anderen Kanzlerkandidat für die Wahl entschieden.
Wir sollten auf die Kraft von Institutionen setzen. Dazu braucht es auch Parteien.
Und obrigkeitsstaatlich: Weiss ich gar nicht. Wir haben versucht, die Bevölkerung zu überzeugen. Im Wesentlichen ist es ganz gut gelungen und deswegen bleibe ich gerne bei meiner Meinung.
Man hat gesagt, Söder hätte die die Union geführt, wie Sebastian Kurz die ÖVP. sie quasi zu seiner eigenen Bewegung gemacht. Ist das eine Gefahr, an die Sie gedacht und deshalb den CDU-Kandidaten Armin Laschet unterstützt haben?
Ich glaube, wir sollten es nicht nicht zu sehr von Stimmungen abhängig machen, sondern wir sollten auf die Kraft von Institutionen, auch in der repräsentativen Demokratie, setzen. Dazu braucht man auch Parteien, die dann wiederum Entscheidungen nach dem repräsentativen Prinzip treffen. Das haben wir getan.
Ich verweise auf das Beispiel von Frankreich. Emmanuel Macron hat 2017 etwas zustande gebracht, was die meisten Frankreich-Kenner für unmöglich gehalten haben: eine Mehrheit in der Assemblée.
Aber obwohl er das geschafft hat, hat er trotzdem noch keine richtige Partei. Sie sehen bei den Regionalwahlen die Schwierigkeiten, die selbst ein so faszinierender, charismatischer Präsident in Frankreich hat, wenn er nicht stabile Strukturen hat. Und die fehlen ihm ein bisschen.
Haben Sie auch Angst um die Stabilität Deutschlands, wenn es eben anders läuft als über Gremien und Repräsentation? Wenn wir auf Donald Trump oder Obama blicken: Die wären in der CDU nie so von null auf hundert zum Kanzlerkandidaten geworden. Obama etwa hat nie eine Ochsentour durch die Partei gemacht, wie das in Deutschland üblich ist.
Bei allem Respekt vor jedem gewählten amerikanischen Präsidenten – solche Bewegungen führen nicht zu einer stabilen, freiheitlichen Demokratie. Deswegen haben wir ja auch aus der amerikanischen Verfassung gelernt – das System von Checks and Balances, also den Ausgleich, die gegenseitige Begrenzung. Und gerade nicht, dass die Gewählten gewissermassen die absolute Macht haben.
Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft. Aber die grundlegenden Prinzipien von Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Menschenwürde bleiben.
Natürlich verändert sich die Welt auch durch die neuen Formen der Kommunikation dramatisch. Aufklärung, Reformation wären vor 500 Jahren ohne die Erfindung des Buchdrucks in Deutschland anders verlaufen. Auch die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft und die Welt in der vielfältigsten Art.
Manches verstehen Ältere gar nicht mehr so ganz genau. Aber die grundlegenden Prinzipien von Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Menschenwürde bleiben. Dies müssen wir in dieser Welt weiter zum Tragen bringen, das ist die grosse Aufgabe in der Partnerschaft der grossen demokratischen Rechtsstaaten.
Sind Sie diesbezüglich optimistisch?
Nach dem G7-Gipfel bin ich wieder ein Stück optimistischer, dass wir das schaffen. Zumal die meisten Menschen auf der Welt lieber so leben, wie wir in Europa.
Die chinesische Führung ist sich offenbar dieser Anziehungskraft unserer Werte sehr bewusst. Sonst würde sie sich nicht in Hong Kong lächerlich machen und wegen ein paar 10'000 Demonstranten in Hong Kong zeigen, dass sich China nicht an getroffene Vereinbarungen hält. Das ist für dieses grosse Land unwürdig.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.