Zehntausende Menschen demonstrieren in Deutschland seit Wochen, um den Hambacher Forst zu erhalten. Ein Gericht hat die geplante Rodung vorläufig gestoppt, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland hatte geklagt. Umweltschützer werten ihren Protest als ersten Erfolg.
Im Osten Deutschlands protestieren hingegen konservative Kräfte und rechtsextreme Gruppen gegen die sogenannte Überfremdung des Abendlandes. Vor allem in Chemnitz formierten sich in den vergangenen Wochen Anhänger der AfD, der «Pegida» und des rechtspopulistischen Bündnisses «Pro Chemnitz».
Was bewirken diese Proteste? Philipp Gassert ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Er hat eine Studie vorgelegt, die erstmals die Protestbewegungen in der Bundesrepublik und in der DDR seit 1945 bis heute beleuchtet.
SRF: Lohnt es sich, auf die Strasse zu gehen?
Philipp Gassert: Die Friedensbewegung der 1950er-Jahre hat es nicht geschafft, die Wiederbewaffnung und die teilweise atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu verhindern. Die Achtundsechziger haben es nicht geschafft, die Weltrevolution loszutreten und in den 1980er-Jahren hat es die Friedensbewegung nicht geschafft, die Stationierung der Nato-Raketen zu verhindern. Würde man diese Proteste nach den direkten Intentionen und formulierten Zielen betrachten, wären sie eine frustrierende Erfahrung, weil dann jede Protestbewegung gescheitert wäre.
Wofür sind Proteste dann gut?
Sie spitzen einen Konflikt zu. Sie differenzieren nicht. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie rücken eine brennende Frage ins Zentrum unserer gesellschaftlichen Debatten.
Dazu sind Protestbewegungen in der Lage. Und das ist ihre zentrale und wichtige Funktion.
Erreicht der Protest die Regierenden?
Interessant ist, wie die Institutionen reagieren. Sie werden gezwungen, ihre Position zu verteidigen. Protest ist eine Form der politischen Kommunikation, er spitzt Defizite in der Gesellschaft brachial zu.
In den 1980er-Jahren planten die Supermächte USA und Sowjetunion, weiter aufzurüsten. Die Angst vor einem Atomkrieg ging um. Hundertausende gingen in Europa und auch in Deutschland auf die Strasse.
Wie bewerten Sie diesen Protest?
Mit dieser Friedensbewegung wurde es in Ost- und Westdeutschland wieder normal und anständig, auf die Strasse zu gehen. Mit dabei waren Leute aus kirchlichen Kreisen, Bürgerliche, Etablierte, Ältere und Familien mit Kindern.
In den 1950er- und 1960er-Jahren war das anders. Unbescholtene Bürger gingen damals nicht auf die Strasse, um ihren Dissens lautstark anzumelden.
Damals, 1987, protestierten auch 20 Richter im schwäbischen Städtchen Mutlangen gegen amerikanische Atomraketen.
Das war sehr ungewöhnlich. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung gelten Richter als diejenigen, die die staatliche Herrschaft aufrechterhalten. In Mutlangen zweifelten Richter Entscheidungen an, die legitimiert waren und die im Bundestag beschlossen wurden.
Die Reaktionen fielen heftig aus. Einige CDU-Politiker wie der heutige Ministerpräsident von Hessen Volker Bouffier forderten, die Richter zu entlassen. War das nicht übertrieben?
Diese heftigen Reaktionen sind durchaus wichtig. Was Bouffier und andere damals gemacht haben, ist nur die andere Seite einer Debatte. Wenn niemand dagegengehalten hätte, wäre das, was in Mutlangen passiert ist, ins Leere gelaufen. Man hätte es auch ignorieren können. Damit der Protest in der Gesellschaft verfängt, braucht es immer auch die Reaktion der Gegenseite.
In Deutschland wenden sich immer Menschen mehr von den bürgerlichen Parteien ab und wählen etwa die rechtspopulistische AfD. Was ist von dieser Art Protest zu halten?
Wir sprechen hier von «Protestparteien», trotzdem ist die AfD beispielsweise eine Partei, die im Bundestag sitzt. Deswegen erfüllt sie nicht die üblichen Kriterien einer Protestbewegung. Das muss man sauber voneinander trennen.
Andere Länder wie die Schweiz verfügen über das Instrument der Volksabstimmung. In Deutschland wird dieses Instrument aus historischen Gründen sehr wenig genutzt. Die Volksabstimmung sehe ich zwar nicht als genuinen Ausdruck einer Protesthaltung, aber sie kann von Menschen genutzt werden, die eine Protesthaltung zum Ausdruck bringen wollen.
Welche Rolle spielen heute die sozialen Netzwerke in Protesten?
Ich glaube, um die Sache wirklich nachdrücklich zu machen, muss man immer noch die Körper auf die Strasse bringen oder sie müssen einen Platz besetzen. «Occupy» ist in diesem Zusammenhang interessant, weil die Bewegung aus den sozialen Medien hervorgegangen ist.
Aber auch sie wurde erst in dem Moment ein Faktor, als der Zucotti-Park besetzt war. In dem Moment, wo die Leute unterwegs sind, kommen auch die etablierten Medien, halten die Kameras drauf, halten die Mikrofone hin. Sie brauchen dieses inszenatorische Potenzial, damit Protest in der Breite wirksam wird.
Das Gespräch führte Hans Rubinich.