SRF: Wie stellen Sie sich als nicht-betroffene Fachfrau das Leben mit Asperger-Autismus vor?
Heike Meyer: Spontan würde ich sagen, dass es sehr anstrengend sein muss. Asperger-Autisten (siehe Tabelle) leben beispielsweise in einer Kultur, deren Sprache sie sprechen. Zugleich haben sie grosse Mühe, die Bedeutung und Verwendung dieser Sprache richtig zu verstehen. Es ist also ein sehr herausforderndes Leben.
Immer wieder liest man vom Asperger-Boom. In zehn Jahren gab es eine Verzehnfachung der Diagnosestellung. Wie ist das zu erklären?
Für diesen Boom gibt es verschiedene Erklärungen. Einerseits haben sich in den letzten Jahren die Diagnosekriterien verändert. Heute kann man die Diagnose Asperger-Autismus schneller stellen als noch vor einigen Jahren. Das macht auch Sinn, da man möglichst früh helfen und unterstützen möchte.
Andererseits geht man davon aus, dass Laien und Fachleute stärker sensibilisiert sind und diese Diagnosestellung schneller in Betracht gezogen wird. Vorher wurde eher ADHS statt eine autistische Störung diagnostiziert.
Ausserdem kommt dazu, dass unsere Gesellschaft sehr hohe Anforderungen an kommunikative Kompetenzen stellt. Genau in diesem Bereich sind Menschen mit einer autistischen Störung besonders herausgefordert. Betroffene fallen somit stärker auf als früher.
Hat dieser Boom möglicherweise auch damit zu tun, dass Schulen individuellere und experimentellere Unterrichtsformen ausprobieren?
Gut möglich. Diese neuen Unterrichtsformen verlangen den Schülerinnen und Schülern hohe kommunikative Kompetenzen ab. Kinder mit Asperger-Autismus fallen in dieser Art von Unterricht stärker auf, weil sie mit diesen Formen unter Umständen nicht so gut umgehen können.
Ein Leben mit Asperger-Syndrom ist ein sehr herausforderndes Leben.
Aber ich denke auch, dass man innerhalb dieser Unterrichtsformen neue Orientierungsgrundlagen schaffen kann, die Kindern mit Autismus entsprechen und sie einbinden.
Was weiss man über die Ursachen von Asperger-Autismus?
Lange wurde angenommen, dass ein falsches Erziehungsverhalten der Eltern die Hauptursache ist. Heute weiss man, dass diese Annahme falsch ist. Die Ursachen können vielfältig sein. Beispielsweise spielen die Genetik, Probleme bei der Geburt oder eine Kombination dieser Faktoren eine Rolle.
Auffällig viele Jungen sind von Autismus betroffen. Warum?
Allgemein sind bei vielen Formen von Behinderung mehr Jungen als Mädchen betroffen. Man führt das darauf zurück, dass Jungen besonders in der frühen Entwicklung verletzlicher und deshalb häufiger von Behinderungen betroffen sind.
Allerdings gibt es bei Mädchen mit Autismus eine grosse Dunkelziffer, da ihr Sozialverhalten meist unauffällig ist und die Diagnose so weniger in Betracht gezogen wird.
Was sind besondere Begabungen und Ressourcen von Kinder mit Asperger-Syndrom?
Starke Detailorientierung sowie aussergewöhnliche kognitive Fähigkeiten sind klassische Begabungen. Autisten können sich Dinge sehr gut merken. Sie vergessen kaum etwas. Zudem sind sie sehr ehrliche Menschen, die sich an die Regeln, die sie verstanden haben, konsequent halten.
Sie haben auch Wahrnehmungsfähigkeiten, die gesunden Menschen nicht zugänglich sind. Zum Beispiel können Betroffene höhere Tonfrequenzen wahrnehmen oder lösen mathematische Operationen viel kreativer als wir. Solche Ressourcen müssen wir unbedingt als Talent und Chance sehen. Denn ich bin sicher: Manche dieser Begabungen könne wir in unserer Denkweise gar nicht erkennen und verstehen.
Das Gespräch führte Cornelia Kazis.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 24.7.2017, 9:02 Uhr.