Meistens staunen die Schüler, wenn Liora Abergel das Klassenzimmer betritt – und stellen die Frage: «Hä, bist du die Jüdin?»
Unter Juden stellen sich Schweizer Schülerinnen und Schüler oft jemand Exotisches vor – und keine ganz normale junge Frau wie die 20-jährige Zürcherin Liora Abergel.
Vorurteile abbauen
«Ich muss dann erklären, dass nicht alle Juden Locken, Hüte oder Perücken tragen, sondern dass man die meisten Juden auf der Strasse gar nicht erkennen würde.»
Wie viele andere jüdische Jugendliche engagiert sich Liora Abergel im Projekt «Likrat». Das ist eine Gruppe von Juden, die den Dialog mit Nicht-Juden sucht. Es gehe darum, Vorurteile abzubauen und das Zusammenleben zu fördern.
Keine Tabus
«Likrat» ist hebräisch und bedeutet so viel wie «aufeinander zu». Es geht also ums Zugewandt-Sein, auch bei heiklen Fragen. Denn die gehören zur DNA von «Likrat». Demnach gibt es keine Tabus, alle Fragen sind erlaubt.
«Alle Schüler denken immer, dass Juden Sex mit einem Leintuch dazwischen haben. Ich muss jedes Mal lachen, weil ich nicht weiss, woher dieses Vorurteil stammt», berichtet Liora Abergel.
Ein vielfältiges Judentum
Über den Dialog könnten falsche Vorstellungen und Zerrbilder korrigiert werden, sagt die angehende Studentin. Ihr sei es wichtig, auch die Vielfalt im Judentum zu zeigen.
Sie selbst sieht sich als modern-orthodoxe Jüdin: «Das bedeutet, dass ich die Werte der Bibel befolge, aber modern. In der Bibel steht: Kleide dich anständig! Das heisst aber nicht, dass ich mit einem langen Rock rumlaufe wie im Mittelalter.»
Auch Ari Hechel (17) macht bei «Likrat» mit. Er besucht oft mit einem vollen Rucksack die Schulklassen – mit einem Gebetsschal, mit Gebetbüchern und mehreren Kippot. An der Kopfbedeckung für Männer, der Kippa, erkennt man Juden meistens sofort.
Koschere Gummibärchen sind beliebt
So spannend die religiösen Utensilien auch sind: Der Renner sind die koscheren Gummibärchen. «Tiergelatine ist nicht koscher. Koschere Gummibärchen werden deshalb mit Pflanzen- oder Fischgelatine hergestellt», berichtet Ari Hechel.
Prominentester «Likrat»-Aktivist ist der Zürcher Rabbiner Noam Hertig (32) – auch wenn sein Engagement schon etwas zurückliegt. Durch «Likrat» habe er gemerkt, dass er gerne über seine Religion spreche und Fragen beantworte. Das sei mit ein Grund dafür gewesen, «dass ich später Rabbiner geworden bin».
Vorurteil: Jüdische Banker
Dabei geht es bei «Likrat» nicht nur um Religion. Oft geht es auch um Vorurteile. «Ich wurde gefragt, ob mein Vater bei einer Bank arbeitet. Das hat mich schon ziemlich schockiert», berichtet Noam Hertig. «Die Antwort war: ‹Nein. Mein Vater leitet ein Behindertenheim.›»
Noam Hertig ist überzeugt: Religion trenne nicht nur, sondern führe auch zusammen. «Religion kann ein Auslöser von Konflikten sein, aber auch Teil der Lösung. Und daran will ich mitarbeiten.» Das heisst: weiter aufeinander zuzugehen. Eben das, was das hebräische Wort «Likrat» bedeutet.