Eine Welt von Superreichen und Habenichtsen: Das ist das Szenario, von dem die am «Focus»-Projekt beteiligten Sicherheitsforscher ausgingen. Ziel des Projekts war es, dass die EU auf künftige Bedrohungen an der Schwelle zwischen innerer und äusserer Sicherheit adäquat reagieren kann. Mit Hilfe von IT-gestützten Vorhersagen wurden von 2011 bis 2013 Vorschläge für die Sicherheitspolitik erarbeitet. Die EU hat das Projekt mit 3,4 Millionen Euro finanziert.
Die Sicherheitsforscher rechneten damit, dass sich die Einkommensschere innerhalb der EU weiter spreitzt. Und da starke Unterschiede in der Einkommensverteilung historisch gesehen zu Aufständen führen, zogen sie einen folgerichtigen Schluss: In Zukunft werde man das Militär einsetzen, um Aufstände niederzuschlagen: «Während innerer Unruhen und Revolten schützen Militärs sensible Infrastruktur und stellen Recht und Ordnung wieder her. Spezialeinheiten, die auf die Bewältigung von Notständen spezialisiert sind, werden sowohl im Inneren wie auch bei internationalen Krisen eingesetzt», heisst es in der Abschlussstudie. Das Hirngespinst spinnerter Wissenschaftler?
Spezialkräfte schon ausgebildet
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Die Europäische Union hat schon längst Massnahmen getroffen, die Vorhersagen der «Focus»-Forscher Wirklichkeit werden zu lassen. Spezialkräfte, die man im Inland und Ausland einsetzen kann, gibt es jedenfalls schon. Einst hiessen sie Paramilitärs, heute werden sie «stability police units», Stabilisierungseinheiten, genannt und im «Center of Excellence for stability police units» (CoEspu) ausgebildet.
Seit 2005 residiert dieses internationale «Kompetenzzentrum», dessen Gründung beim G8-Gipfel in Sea Island beschlossen wurde, in der Chinotto-Kaserne im norditalienischen Vicenza. Es wird von Carabinieri, der italienischen Gendarmerie, geleitet. Ihnen hat man den Auftrag erteilt, Polizisten aus NATO- und EU-Ländern und aus Afrika jene Fähigkeiten beizubringen, die für Gendarmerien typisch sind: sowohl unter zivilem wie auch unter militärischem Kommando zu agieren, die öffentliche Ordnung – auch in Kriegsgebieten – zu gewährleisten, und, in erster Linie, Aufstände zu unterdrücken. Es heisst, solche speziell ausgebildeten Sicherheitskräfte brauche man für Friedensmissionen in destabilisierten Drittländern. Aber wer verbietet NATO und EU, sie bei Bedarf auch im Inneren einzusetzen?
Einsatz bei einer «vom Menschen verursachten Katastrophe»
Die EU hat überdies seit 2006 ihre eigene «stability police unit:» die European Gendarmerie Force (Eurogendfor). Offiziell keine EU-Einrichtung, sondern ein Zusammenschluss von sechs europäischen Gendarmerien, soll sie aber in erster Linie unter dem Kommando der EU operieren. Bislang war sie nur in Bosnien, Afghanistan und Haiti im Einsatz. Doch hat die EU mit dem Vertrag von Lissabon die rechtliche Voraussetzung dafür geschaffen, Eurogendfor genauso wie Militärs auch innerhalb der Union einzusetzen.
Artikel 222, die sogenannte Solidaritätsklausel, sieht vor, dass «die Union alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschliesslich der ihr von den Mitgliedsstaaten bereitgestellten militärischen Mittel» mobilisiert, «wenn ein Mitgliedsstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachen Katastrophe betroffen ist.» Was eine von Menschen verursachte Katastrophe denn sei, haben dann die EU-Aussenbeauftragte Cathrine Ashton und die EU-Kommission in einem Papier von 2012 folgendermassen dargelegt: «Jede Situation, die schädliche Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte hat oder haben kann.»
Bekanntlich haben auch Streiks Auswirkungen auf Vermögenswerte. Was, wenn die griechische Polizei mit den nächsten Streiks gegen die Sparpolitik nicht zu Rande kommt? Auszuschliessen ist es nicht, dass dann die Solidaritätsklausel in Kraft tritt und die EU Verstärkung nach Griechenland schickt.