Es ist nicht egal, wo wir miteinander sprechen. Im kleinen Raum muss nämlich die Stimme leiser sein als im grösseren Zimmer nebenan.
Wir entscheiden uns für den grossen Besprechungsraum an Matthias Hubers Arbeitsort, der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Bern, UPD AG. Da steht ein ovaler Holztisch mit einer regelmässigen Maserung.
Eine Beruhigungsfläche für Matthias Huber. Wenn er mit mir spricht, schaut er unablässig auf den Tisch.
Maserung statt Mimik
Er spricht druckreif. Fast ohne Punkt und Komma. Überlegt. Präzise. Detailreich. Der Blick in mein Gesicht würde ihn verstören. Meine Mimik ist nicht wie der Tisch. Ruhig. Gleichbleibend. Sie sendet soziale Signale. Und die sind für Menschen mit der Diagnose Autismus schwierig.
Matthias Huber erklärt mir das. Er erklärt auch, wieso er noch kurz aufstehen muss, um die Falten des Vorhangs im Zimmer gerade zu streichen. Auch das ein Akt der Bändigung.
Ein doppelter Experte
Matthias Huber ist vom Asperger-Autismus betroffen. Und: Matthias Huber ist Psychologe. Sein Spezialbereich ist Autismus.
Dass er eine Wissenschaft studieren konnte, die Softskills erfordert, ist seiner Hochbegabung zu verdanken. Und ein paar wichtigen Leuten, die ihn ihm nicht einfach nur «den Behinderten» sahen, sondern aufmerksam wurden auf seine grossen Ressourcen.
Früh erkennen, früh fördern
Dabei ist Matthias Huber diagnosefrei gross geworden. In den 1970er-Jahren, den Jahren seiner Kindheit, war der Asperger-Autismus noch kaum bekannt. Auch später nicht.
Erst in diesem Jahrhundert werden kleine Sonderlinge, wie es Matthias einmal war, schneller und besser erkannt in ihrem Anderssein.
Das ist auch das Verdienst des 49-jährigen Experten. Er macht sich stark für die Früherkennung und Frühförderung. Als Doppelexperte verfügt er über eine einzigartige Expertise und Glaubwürdigkeit.
Ein verlorener Freund, eine leise Stimme
Matthias Huber hatte als kleines Kind einen Freund. Mit ihm war er gerne draussen. Mit ihm kletterte er auf Bäume. Der Freund ging mit ihm in den Kindergarten.
Aber dort erkannte Matthias seinen Spielgefährten nicht mehr. Zu viele Gesichter, zu viele Geräusche, zu viel Bewegung! «Es war für mich wie ein undurchdringlicher Nebel. Die Spiele kamen mir vor wie ein zielloses, unnützes Tun.»
Ein besonderer Schüler
Lieber beschäftigte er sich ganz allein. Legte Muster. Schaute sie lange an. Und wurde dabei wieder ruhiger. Kam zu sich.
Später in der Schule wunderte sich ein Lehrer, wieso Matthias nur flüsterte. Dem besonderen Schüler war einfach nicht klar, wie laut seine Stimme sein musste in dem neuen Raum, dem grossen Schulzimmer.
Das Regal und die sprachliche Präzision
Mathematik war für Matthias meist ein sicherer Wert. Ausser bei Textaufgaben. Da kam er öfter autistisch ins Grübeln: Wenn da stand «In einem Raum von 10 Meter Seitenlänge stehen 5 Büchergestelle. Wie viele Regale haben in einem Raum von 4 Metern Seitenlänge Platz?», dann wusste er nicht, was er berechnen sollte.
Für einen Asperger-Autisten geht dann die Gedankenreise andere Wege. Wie unterscheidet sich ein Regal von einem Büchergestell? Ist das dasselbe? Was ist wohl mit dem Unterschied gemeint? Und so weiter und so fort, bis an einen anderen Ort, an dem die schulische Aufgabe nicht mehr gelöst werden kann.
«Wir sind auf sprachliche Präzision angewiesen», sagt Matthias Huber und nennt ein paar andere autismusfeindliche Alltagsphrasen. Zum Beispiel: «Bis bald!»
Etwas ganz Neues
Der zierliche Experte am ovalen Holztisch spricht einen Zungenbrecher gelassen aus: «Retrospektivlastige Assoziationsinduzierung.» Wie bitte? Matthias Huber erklärt: «Für Sie ist selten etwas ganz neu. Sie können immer auf schon Erfahrenes zurückgreifen.»
Stimmt: Bei einem Wohnungswechsel fühle ich mich schnell wieder zuhause, weil eine Wand eine Wand bleibt, eine Tür eine Tür und auch das Dach ist immer über dem Kopf.
Anders bei autistischen Menschen. Sie sind detailfokussiert. «Die Unterschiede fallen ins Gewicht. Wir kommen schnell vom Hundersten ins Tausendste. Dann kommt uns das grosse Ganze abhanden.»
Matthias Huber hat gelernt, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Er lebt ein erfülltes Leben. Im Beruf. Und auch privat. Auch dank einem schönen Holzmuster auf dem Tisch und geraden Falten am Vorhang.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 24.7.2017, 9:03 Uhr