Das Bild ist in die Geschichte eingegangen: In weissen Nike-Turnschuhen legte Joschka Fischer 1985 als erster grüner Minister den Amtseid ab. Es war eine Provokation: gegen das Establishment, gegen die klassischen Dresscodes der Gesellschaft.
Kamala Harris kauft Converse
Heute kann man sich kaum noch vorstellen, wie sehr das Tragen von Sneakers früher zu reden gab. Ob an einer Beerdigung oder beim Vorstellungsgespräch – die Menschen beschäftigt heute nicht mehr, ob jemand Sneaker trägt, sondern welche.
US-Vizepräsidentin Kamala Harris kam letztes Jahr in Converse «All Stars»-Sneakern zu den Wahlkampfveranstaltungen. Harris suggerierte mit dem erschwinglichen und beliebten Modell: Ich bin eine von euch. «Egal woher man kommt, welche Sprache man spricht – irgendwann hatte man mal so ein Paar Converse», sagte sie später, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen.
Chuck Taylor, der erste Sneaker-Influencer
Sneakers machen Leute. Aber eigentlich muss man es umgekehrt sehen: Ohne die richtigen Leute hat ein Sneaker kaum Bedeutung. Die Menschen in den Sneakern waren seit Beginn die Triebkraft hinter deren Erfolg: Sportler, Schauspielerinnen, Musiker.
Mit Basketballspieler Chuck Taylor als Markenbotschafter wurde das Modell «All Stars» der US-Firma Converse, seitdem bekannt als «Chucks», ab den 1920er-Jahren schnell zum Verkaufsschlager. Zuerst im Basketball – ab den 1950er-Jahren bei der Jugend.
James Dean, Elvis Presley, die Beach Boys, später Andy Warhol und Kurt Cobain – sie alle trugen «Chucks». Und waren die Sneaker-Influencer ihrer Zeit. Hundertausende folgten ihnen. Die Anzahl verkaufte Exemplare bis heute: über eine Milliarde.
Michael Jordans illegale Sneaker
Die fast noch wichtigere Sneaker-Geschichte schrieb aber ein anderer Basketballer: Michael Jordan. Die Schuhe des legendären Spielers sind bis heute Kult.
1984 trug Jordan bei einem Spiel den rot-schwarzen Nike «Air Ship». Nike erhielt darauf von der US Basketball-Liga NBA eine Verwarnung.
Der rot-schwarze Schuh verstiess gegen die Liga-Regelung. Schuhe auf dem Court mussten vorwiegend weiss sein.
Nike fing diesen Pass und punktete: 1985 bringt der Sportschuhhersteller den «Air Jordan I» heraus – natürlich in rot-schwarz. Und schaltet eine TV-Werbung: «Fortunately the NBA can’t stop you from wearing them., Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen» Der angeblich verbotene Schuh entfachte den ersten Sneaker-Hype. Eine Geschichte fürs Marketing-Lehrbuch.
Ein Freund aus der Schulzeit kommt mir in den Sinn. Ende der 1990er-Jahre hatte er über 40 Paar «Nike Air Jordan» bei sich zu Hause im Schrank. Ich rufe ihn an.
«Wir schauten immer diese Videokassetten von Michael Jordan. Er bewegte sich grazil wie ein Tänzer. Elegant», erzählt er.
Er kommt ins Schwelgen: «Wenn er den Ball hatte, wusste man: Jetzt passiert etwas Grosses. Wie bei Maradona. Das war so inspirierend – ich habe das mit seinen tollen Schuhen verbunden.»
Es muss an den Schuhen liegen, «It's gotta be the shoes, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen», stellte auch Regisseur Spike Lee in einem «Air Jordan»-Werbespot Anfang der 90er-Jahre fest. Er sprach aus – wenn auch nicht ernst gemeint –, was wir hören wollten: Kauf diesen Schuh, und du kannst sein wie Jordan.
Alles nur Marketing?
«Welche Sneaker beliebt sind und sich gut verkaufen, ist grösstenteils Marketing», meint Marc Sonderegger. Er hat mehrere Jahre einen beliebten Sneaker-Shop in Basel geführt.
«Influencer, Trends, Stars etc. spielen dabei sicher eine wichtige Rolle», überlegt er weiter. Aber diese seien oft auch nur Teil der ganzen Marketing-Strategie.
Natürlich gibt es pragmatische Gründe, Sneaker zu tragen: Sie sind bequem, leicht und meist günstiger als gute Lederschuhe.
Aber Fakt ist: Viele Menschen kaufen Sneaker, weil sie «cool», «schön» oder «in» sind. Die Sneaker-Hersteller sind Meister darin, Hypes um ihre Produkte zu generieren.
«Wo hast du die her?»
Spätestens seit den 1980er-Jahren gibt es noch einen weiteren wichtigen Faktor für den Sneaker-Erfolg: künstliche Verknappung. Man hält die Produktionsmenge absichtlich tief – aktuell zum Beispiel bei den Kooperationen von Nike und dem Luxus-Label Off-White.
Denn etwas, das viele haben wollen, aber nicht viele kaufen können, ist begehrt, gewinnt an Status – und massiv an Wert. Das bringt den Herstellern keinen grossen Umsatz, aber festigt ihren Ruf als begehrte Marke im Sneaker-Geschäft.
«Where did you get those?», «Wo hast du die her?», wurde man schon im New York der 1970er-Jahre gefragt, schreibt Bobbito Garcia in seinem gleichnamigen Buch über den Sneaker-Hype. Diese Frage ist die Essenz der Sneaker-Kultur: Sneaker als Statussymbol, als Teil der persönlichen Identität.
«Kunde kommt extra aus der Schweiz»
«Wenn ich die habe, dann bin ich der Einzige, der die hat», dachte sich auch mein damaliger Schulfreund. Aber die Schuhe seines Vorbilds Michael Jordan zu kaufen war vor 30 Jahren kein einfaches Unterfangen: «Im Jelmoli-Katalog gab es keine ‹Air Jordans›.»
In den Sportläden auch nicht. «Retros gab es sowieso nicht. Wir mussten quer durch Europa reisen», erzählt mein Freund. «Es war wie die Suche nach dem heiligen Gral.» Noch heute nennt man schwer zu findende Sneaker «Grails».
«1999 rief ich bei Foot Locker in München an und konnte das letzte Paar des ‹Air Jordan IV Bred› reservieren. Per Zug reisten wir nach Kreuzlingen, mit den Rollschuhen Richtung Autobahn und von da per Autostopp weiter», erzählt er.
«Im Shop lachten die Verkäufer. Sie hatten Wetten abgeschlossen, ob tatsächlich ein Schweizer nach München reisen würde, um ‹Air Jordans› zu kaufen. Auf der Schuhschachtel stand mit Filzstift geschrieben: ‹Kunde kommt extra aus der Schweiz.›»
Den Schuh hat er später für über 400 Pfund in England verkauft. «Aber Geschichten wie diese vergesse ich ein Leben lang nicht.»
Wer kaufen darf, entscheidet das Los
Solche Erlebnisse sind heute selten. Denn die begehrten und stark limitierten Modelle werden an einem vorangekündigten Datum zu einer bestimmen Zeit herausgegeben – über ausgewählte Läden, Webshops oder spezielle Apps der Hersteller selbst.
Nur mit sehr viel Glück kann man solche limitierten Releases überhaupt kaufen. Oft muss man sich registrieren, dann wird nach Los entschieden, wer kaufen darf. Absurd.
«Das Sneaker-Business hat sich in den letzten Jahren stark verändert», sagt Schuhverkäufer Marc Sonderegger. «Weil die Nachfrage nach diesen Hype-Sneakern viel grösser ist, als das Angebot, kaufen heute viele Schuhe, nur um sie gleich wieder zu verkaufen – nicht um sie zu tragen.»
Sneakerpreise wie Börsenkurse
Und das lohnt sich: Bestimmte Modelle sind so begehrt, dass man sie direkt nach dem Kauf für tausend Franken (oder ein Mehrfaches davon) weiterverkaufen kann – bei einem ursprünglichen Verkaufspreis von 150 bis 250 Franken. Das ist sogenannte Sneaker-Spekulation.
Es verwundert darum nicht, dass auf der populären Webseite «Stockx.com» die Preise für angesagte Schuhe wie Börsenkurse angezeigt werden.
Nicht Teil dieser neueren Entwicklung sind kleine Sneaker-Shops, wie Marc Sonderegger in Basel einen hatte. «Als Fan finde ich diese speziellen Releases cool. Aber als Ladenbesitzer ist es frustrierend», sagt er. In der Schweiz bekomme praktisch kein Sneaker-Laden diese limitierten Releases, so Sonderegger.
Manchmal bekommt sogar nur ein einziger Laden für ganz Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen einen derart limitierten Schuh (Beispiel: die bereits erwähnten Off-White-Nikes). Welcher Laden, entscheiden die Hersteller.
«Man muss bekannt sein, viele Follower und eine grosse Reichweite auf Social Media haben, dann ist man für die Brands interessant», sagt Marc Sonderegger.
Wie viele Sneaker braucht ein Mensch?
Sein Laden in der Basler Innenstadt gibt es heute nicht mehr. Er verkauft nur noch online. Sonderegger bleibt aber optimistisch: «Wer weiss, vielleicht gibt es ja mal wieder einen Wandel in die andere Richtung.»
Er könnte recht haben, denn sogar Sneaker-Guru Virgil Abloh, dessen limitierte Kollaborationen mit Nike zu den begehrtesten Sneakern überhaupt gehören, prophezeit einen Wandel hin zu mehr Vintage-Shopping.
«Die Street-Fashion-Kultur wird sterben. Wie viele T-Shirts können wir noch besitzen, wie viele Kapuzenpullis, wie viele Sneaker?», fragte Abloh rhetorisch Ende 2019 in einem Interview mit dem Magazin «Dazed», Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen.
40 ungetragene Paare Sneaker zu Hause im Schrank. Das trieb auch meinen Schulfreund um. «Als ich älter wurde, fragte ich mich: Was für ein materialistischer Idiot bin ich eigentlich?», sagt er.
Seine Sammlung hat er längst verkauft (mit Gewinn). Heute besitzt er nur noch ein Paar: die «Air Jordan VI Infrared». Diese hat er zu seiner Hochzeit getragen.