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Die Kraft der Rituale Philosoph: «Ohne Rituale lösen sich Gemeinschaften auf»

Mit der Adventszeit beginnt sie wieder, die Hochzeit der Rituale. Für den Philosophen Konrad Paul Liessmann haben sie Zwangscharakter – und sind gerade deshalb befreiend.

Konrad Paul Liessmann

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Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech. Er hat eine ganze Reihe von Büchern verfasst – etwa «Bildung als Provokation» (2017).

SRF: Bald beginnt die Adventszeit mit ihren vielen Ritualen. Einiges davon wird wegen Corona nicht stattfinden. Ein Verlust?

Konrad Paul Liessmann: Rituale spielen als wiederkehrende, festgelegte Abläufe in unserem Leben eine wichtige ordnende und strukturierende Rolle.

Einige werden sie deshalb sicher vermissen. Manche werden vielleicht auch erleichtert sein, dass die übliche Weihnachtshektik einer zwar erzwungenen, aber wirklichen Weihnachtsruhe weichen muss.

Warum halten wir über Generationen hinweg an Ritualen fest?

Rituale haben zwei wichtige Funktionen: Im Vollzug eines Rituals weiss ich, was ich zu tun habe – und das ganz ohne Nachdenken. Das ist etwas unglaublich Erleichterndes.

Und Rituale leben von ihrer Wiederholung. Sie sind der einzig halbwegs verlässliche Zugriff auf die Zukunft: Es wird wieder geschehen. Die Sabotage von Ritualen greift in diese Sicherheiten ein. Das frustriert und ängstigt.

Video
Wozu brauchen wir Rituale wie Weihnachten und Ostern?
Aus Bleisch & Bossart vom 24.11.2020.
abspielen. Laufzeit 9 Minuten 45 Sekunden.

Rituale wurden, ausgehend von Sigmund Freud, auch als kollektive Zwangshandlungen gegeisselt. Das kennt man von Familientraditionen, aus denen man nur schwerlich ausbrechen kann. Haben Rituale stets diesen Zwangscharakter?

Ein Ritual ohne Verbindlichkeit ist keines. Deshalb ist Ritualen der Zwangscharakter inhärent. Das ist der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass es einige wenige Momente in unserem Leben gibt, in denen wir wissen, dass wir das Richtige oder vermeintlich Richtige tun, ohne dafür als Individuen verantwortlich zu sein.

Hohlheit ist kein Argument gegen Rituale, sondern deren Essenz.

Rituale sind deshalb lebensnotwendig für Gemeinschaften aller Art. Aber auch einsam lebende Menschen entwickeln ihre privaten Rituale bei der Organisation des Alltags, und wehe, diese werden gestört.

Das ist grundsätzlich nicht pathologisch. Krankhaft wird es, wenn diese Rituale alles andere dominieren und nicht als flexible Knotenpunkte des Daseins aufgefasst werden.

Rituale können also befreiend wirken. Das merken wir jetzt in der Pandemie. Das Fehlen von Begrüssungsritualen macht uns hilflos.

Genau. Das Befreiende rituellen Verhaltens liegt in dem damit verbundenen spielerischen Umgang mit der Wirklichkeit. Wir vollziehen standardisierte Formen der Begegnung und entlasten uns damit von der Aufgabe, in jeder Situation erst zu überlegen, was wir tun oder sagen sollen.

«Bleisch & Bossart» – Alltagsfragen philosophisch beantwortet

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In ihrem neuen YouTube-Format «Bleisch & Bossart» streiten sich die beiden Philosophen Barbara Bleisch und Yves Bossart, Moderierende der Sternstunde Philosophie, über philosophische Alltagsfragen. Diese Woche fragen sie, wozu wir Rituale brauchen. Die einzelnen Folgen finden sich auf dem YouTube-Kanal von SRF Kultur.

Kann man neue Rituale überhaupt aktiv schaffen?

Rituale verlangen einen bedeutsamen Ursprung. Ein erstes Mal, das dann wiederholt wird – denken wir an das christliche Abendmahl. Aber im Prinzip werden alle Rituale von uns geschaffen.

Die Abendmahlsformel zeigt das exemplarisch: «Tut dies zu meinem Gedächtnis.» Jede Familie, jeder Verband, jeder Sportverein, jede Gesellschaft, die Kontinuität beansprucht, entwickelt deshalb Rituale, wie hohl sie auch sein mögen.

Rituale können komplett hohl sein?

Hohlheit ist tatsächlich kein Argument gegen Rituale, sondern deren Essenz. Wenn Rituale nicht mehr befolgt werden wollen, werden sich auch die Gemeinschaften auflösen, die sich nicht zuletzt über diese Rituale ihrer selbst vergewissert hatten. Brüchig gewordene Rituale können deshalb auch als Krisensymptome gedeutet werden.

Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

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