Die Pandemie hat uns eine berührungsärmere Zeit aufgezwungen. Begrüssungsrituale wurden ausgehebelt, Bildschirme ersetzten den direkten Kontakt. Was dieser Berührungsentzug mit dem Menschen macht, und warum es sich immer lohnt, eine Katze zu streicheln, erklärt der Philosoph Wilhelm Schmid.
SRF: Manche Menschen empfinden die durch Covid entstandene Distanz als entlastend und würden diese gerne beibehalten. Was geht verloren, wenn Berührungen wie die Küsschen zur Begrüssung wegfallen?
Wilhelm Schmid: Die schweizerischen drei Küsschen hielt ich immer schon für übertrieben (lacht). Allerdings kenne ich nur wenige Menschen, die ganz auf den Handschlag verzichten möchten. Denn damit entfällt auch das Begrüssungs- und Schlussritual.
Man steht blöd herum und fragt sich, ob man nun umstandslos zum Gespräch übergehen soll, und wie eine Verabschiedung ohne Abschiedsritual aussieht. Ohne diese Konvention entsteht also grosse Verlegenheit.
Welche Rolle spielen Berührungen für eine Gemeinschaft?
In der Familie können wir gut beobachten, dass die Art der Berührung auch die Nähe zum anderen kennzeichnet. Meinem Neffen gebe ich vielleicht nur die Hand, während ich die Tante umarme.
Gemeinschaften werden durch eine Skala der Berührungen definiert. Die innigste Beziehung definiert sich durch innige Berührungen.
Einige Menschen berühren ihre elektronischen Geräte öfter als ihre Partner. Was lehrt uns diese Form der Berührung?
Viele Menschen lernen bei ihrem Smartphone, wie Berührung geht. Der nächste Schritt wäre, dieses zärtliche Streicheln und Antippen auf die Haut des Anderen zu übertragen.
Übrigens ist das bei Smartphones sehr klug gemacht: Beim Tippen werden winzige Vibrationen abgegeben, sodass auch ich als Nutzer eine Berührung spüre. Bei der Haut ist es dasselbe: Winzige Vibrationen kommen zurück, und je nach Art der Vibration, wagen wir uns auf dem Gelände weiter vor.
Durch die Pandemie haben sich manche eine Katze oder einen Hund zugelegt. Decken Haustiere unseren Bedarf an Berührungen genauso gut?
Mindestens. Speziell Hunde sind permanent für Berührungen zugänglich. Berühren und berührt werden, lassen sich nicht trennen.
Wenn ich etwa das Fell meiner Katze berühre, berührt mich dieses automatisch zurück. Wenn sie dazu noch schnurrt, überträgt sich auch dies auf uns. Wir beginnen innerlich zu schnurren und entspannen uns.
Es gibt berührungsstärkere und berührungsärmere Gesellschaften. In Italien zum Beispiel wird beim Sprechen gerne mal das Gegenüber berührt. Was sagt die «Berührungsfrequenz» über eine Gesellschaft aus?
Darüber habe ich auch in meinem Buch nachgedacht: Ich verstehe es so, dass in berührungsstärkeren Gesellschaften schneller Wärme entsteht, wir uns dadurch eher wohlfühlen. Berührungsärmere Gesellschaften hingegen wirken kühler und haben den gegenteiligen Effekt.
Weshalb das so unterschiedlich ist, ist schwierig zu sagen. Es mag mit dem Klima zu tun haben oder mit der Einübung von Verhaltensweisen, die sich über Jahrhunderte entwickelten.
Sie sprechen auch von transzendenten Berührungen. Wovon wird man da berührt?
Das ist die grosse Frage: Es scheint die Berührung von Energien zu sein. Physikalisch gesprochen ist das Universum von Energien erfüllt und offenkundig haben wir Menschen ein Sensorium dafür.
Ich nehme es ernst, wenn jemand sagt, er sei von Gott oder dem Universum berührt. Ich vermute, dass es um etwas geht, das wesentlich für den gesamten Kosmos und für uns Menschen ist, wir aber nicht gut fassen können.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.