Unter dem Titel «Maria 2.0» hängten vor rund einem Jahr Theologiestudierende ein Plakat auf. Es zeigte eine betende Maria mit Heiligenschein – soweit, so harmlos. Ihr Kleid war allerdings fleischfarben, die Form oval, der Faltenwurf üppig wellenförmig. Die Ähnlichkeit mit einer Vulva war nicht zu übersehen: der Kopf Mariens als Klitoris, ihr Gewand als Schamlippen.
Mit dieser Fahne solidarisierten sich die Theologiestudierenden der Universität Freiburg im Breisgau mit der Protestbewegung «Maria 2.0». Diese fordert unter anderem mehr Frauen und Gleichberechtigung in der römisch-katholischen Kirche.
Maria als Frau
Monika Schmid, römisch-katholische Gemeindeleiterin in Effretikon, hat diese «Maria Vulva» erst kürzlich entdeckt: «Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich dachte: ‹Endlich kommt mir Maria als Frau näher.›» Eine Frau, die mit Vorstellungen von Reinheit oder dem Dogma der Jungfräulichkeit idealisiert und damit entmenschlicht worden sei, so Schmid.
Mariendarstellungen, die an eine Vulva erinnern, sind allerdings nicht neu. Auch Darstellungen aus dem Mittelalter oder der Renaissance lassen sich als Hinweise auf das weibliche Geschlecht interpretieren.
Maria als die Schützende
Es gibt zum Beispiel die sogenannte Schutzmantelmadonna: Über ihre ausgebreiteten Arme fällt ihr Mantel bis zum Boden herunter. Unter ihm stehen Menschen, die Schutz und Sicherheit bei der Gottesmutter suchen.
«Wenn man diese Mariendarstellung auf ihre geometrischen Linien reduziert, kann man das durchaus als Vulva interpretieren», stellt Kunsthistorikerin Detta Kälin fest. Allerdings sei das eine zeitgenössische Interpretation. «Das wurde von den Künstlern damals wohl kaum beabsichtig. Kunsthistorisch lässt sich das nicht belegen», betont sie.
Maria als Jungfrau
Vulva-Interpretationen sind der Mariakennerin Kälin schliesslich auch zu banal. Es gäbe viel spannendere Metaphern und Symbole, die auf das Geschlecht Mariens verweisen würden. Die Kunsthistorikerin nennt etwa Maria im Ährenkleid: «Bei diesen Darstellungen wird Maria mit einem Acker verglichen, der viel Getreide hervorbringt, ohne von einem Sämann besamt worden zu sein.»
Das sei eine Metapher für Marias Jungfräulichkeit, macht Detta Kälin deutlich. Maria als Jungfrau wurde in der Kunst immer wieder thematisiert. Motive wie weisse Lilien oder blühende Erdbeeren, die gleichzeitig Früchte tragen, können Symbole dafür sein. Es sind subtile Hinweise, die wie Codes geknackt und interpretiert werden müssen.
Maria als Stillende
Nicht subtil, sondern ganz explizit sind Mariendarstellungen, bei denen die Gottesmutter das Jesuskind stillt. Die sogenannte Maria lactans zeigt ihre nackte Brust – manchmal ist sogar der Nippel zu sehen. «Die Idee ist hier, dass Jesus und Maria ganz normale Menschen sind», sagt Detta Kälin. Menschen aus Fleisch und Blut, die zur Welt kommen, Hunger haben und einmal sterben werden.
Maria nährt aber nicht nur Jesus. Im Mittelalter bis zum Barock habe es Maria lactans-Darstellungen auch als Brunnenfigur gegeben: Zwei Marien stehen Rücken an Rücken zueinander. Aus ihren Brüsten quillt Brunnenwasser heraus. «Maria nährt die Menschen auch religiös», erklärt Detta Kälin. «Wenn sie von diesem Wasser trinken und so – symbolisch gesprochen – die Weisheit und Güte von Maria in sich aufnehmen», erklärt Kälin.
Maria als Gebärerin
Maria wird auch Gottesgebärerin genannt. Der Geburtsvorgang an sich wird in der Kunst aber nicht dargestellt. Bekannt sind die Bilder kurz nach der Geburt: Joseph und Maria im Stall, das Jesuskind in der Krippe liegend, von Ochs und Esel umgeben. «Alles wirkt immer so schön geputzt, wie wenn nichts gewesen wäre», stellt die römisch-katholische Theologin Monika Schmid fest, und macht auf ein Bild aufmerksam, das mit dieser Tradition bricht.
Die britische Fotografin Natalie Lennard hat eine mehrfach ausgezeichnete Serie zu Geburten gestaltet. Unter dem Titel «The Creation of Man» ist auch die gebärende Maria zu sehen. Ihr Gesicht ist von Schmerzen verzogen. Zwischen ihren Beinen ist das Köpfchen des Jesuskinds zu sehen. Joseph ist der Geburtshelfer.
Wie die «Maria Vulva» brechen solche Darstellungen mit unseren Sehgewohnheiten. Das kann irritieren und provozieren. Es kann aber auch zum Nachdenken anregen. Schliesslich liegen Sinn und Bedeutung eines Bildes immer auch in den Augen der Betrachtenden.