Laut ist es im Restaurant Las Alps im Alpinen Museum Bern. An einem langen Holztisch an der Wand sitzt Lorenz Ramseyer. Der Mitvierziger hat seinen Laptop aufgeklappt und schreibt.
«Ich arbeite gerne in Restaurants», sagt er. «Vor allem Konzeptionelles und Organisatorisches erledige ich an solchen Orten.»
Fester Wohnsitz, flexibler Arbeitsplatz
Es ist Mittagszeit. Lorenz Ramseyer gleist Projekte auf, während an den Nachbartischen Geschäftsleute ihre Suppe löffeln, Studentinnen ihr Menü verspeisen und Touristen gemütlich beim Kaffee sitzen.
Auch Lorenz Ramseyer hat hier gegessen, mit einem Kollegen – und dabei über Konzepte gesprochen. Arbeitsalltag, denn Ramseyer ist ein digitaler Nomade: Er lebt in Kerzers bei Bern, hat eine Wohnung und eine Familie – aber keinen festen Arbeitsplatz. Deswegen startet er seinen Computer in Restaurants auf, in Cafés, Bibliotheken, Parks oder auch in der Bahn.
Ramseyer ist einer von unzähligen digitalen Nomaden in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es nicht. Zu unterschiedlich sind die Tätigkeiten, zu uneinheitlich die Bedingungen. Viele digitale Nomaden arbeiten zudem Teilzeit. Das erschwert eine genaue Bezifferung zusätzlich.
Arbeiten über digitale Plattformen
Die Gewerkschaft Syndicom hat Zahlen erhoben: Sie spricht von einer Million Menschen, die in der Schweiz als Crowdworker tätig sind. Noch so ein Begriff: Crowdworker heisst, dass diese Menschen über digitale Plattformen arbeiten.
Weil diese Arbeit für sie nur einen Teil ihrer Einnahmequelle ausmacht, gilt es zu relativieren. Dies sagt Christian Capacoel, Leiter Kommunikation der Gewerkschaft Syndicom: «Von dieser Million erwirbt ein Viertel – also 250'000 Menschen – 50 Prozent ihres Einkommens oder mehr über digitale Plattformen.»
Der Begriff der «digitalen Plattform» wird dabei weit gefasst: Wer etwas über das Internet verkauft, ist bereits Teil davon.
Eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz: Diese Zahl ist beeindruckend hoch – auch im internationalen Vergleich.
Der Anteil Crowdworker ist, bezogen auf die erwerbstätige Bevölkerung, höher als in Ländern wie Grossbritannien oder sogar den USA. Das erstaunt umso mehr, als dort die digitale Plattformwirtschaft mit namhaften Unternehmen prominenter vertreten ist.
Teilzeit-Anstellung als Ausgleich
Lorenz Ramseyer ist Freelancer, arbeitet selbständig mit eigener Firma, der Medienfirma Bergspitz. Mit ihr designt er zum Beispiel Websites und andere digitale Produkte.
Doch auch er verdient seinen Lebensunterhalt nicht ausschliesslich als digitaler Nomade: Er arbeitet mit einem 40-Prozent-Pensum als Berufsbildner im Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation. «Das ist ein guter Ausgleich», sagt er. Diese Stelle hatte er bereits inne, bevor er als digitaler Nomade unterwegs war.
Kunden betreuen auf 3800 M.ü.M.
Lorenz Ramseyer unterbricht seine Bildschirmarbeit im Restaurant und erinnert sich an seine Anfänge: Zum digitalen Nomadentum ist er – wen wundert's – im Ausland gekommen. Er war vor zwölf Jahren in Peru für ein Fair-Trade-Projekt unterwegs, als er Anfragen von Kunden aus der Schweiz bekam.
«Diese arbeiteten digital, und ich musste sie bedienen. Da habe ich gemerkt, dass ich auch in den Anden, auf 3800 Metern über Meer, meine Mails beantworten oder Websites anpassen konnte. Selbst in Internetcafés mit sehr schlechter Verbindung.» Das habe ihn fasziniert.
Die kleinen Freiheiten
In der Folge arbeitete er in Australien, in Singapur, in Bali – für Kunden in der Schweiz. Diese Art des Arbeitens passt zu ihm: «Ich bin unterwegs kreativer als in einem Büro.» Denn das sei einer der Vorteile des digitalen Nomadentums: das ortsunabhängige Arbeiten.
«Wenn ich genug vom Sitzen im Restaurant habe, gehe ich raus, mache einen Spaziergang, setze mich draussen irgendwo hin oder fahre Zug.» Die Digitalisierung biete diese Möglichkeit. «Ich spüre einen grossen Freiheitsdrang und kann dies mit dem Arbeiten kombinieren.»
Seit er vor anderthalb Jahren Vater eines Sohnes geworden ist, beschränkt sich sein digitales Nomadentum allerdings vor allem auf die Schweiz. «Manchmal stehe ich morgens auf und stelle mir die Aufgabe, in diese oder jene Stadt zu reisen, um herauszufinden, wie es sich dort als digitaler Nomade leben lässt.»
Raus an die frische Luft
Unterdessen hat sich das Restaurant Las Alps geleert. Die Service-Mitarbeitenden haben die Tische leergeräumt und bereiten sich auf die Nachmittags-Klientel vor. Lorenz Ramseyer zieht es hinaus, er will spazieren gehen.
«Das ist die grosse Freiheit, wenn ich nicht acht Stunden in einem Raum arbeiten muss: Ich kann kurz rausgehen, mir die Beine vertreten und den Gedanken nachhängen.» Schon sind wir auf der Kirchenfeldbrücke, Richtung Berner Altstadt.
Nicht alle digitalen Nomaden haben das Arbeiten ohne festen Arbeitsplatz gewählt. Oft ist es der Arbeitgeber, welcher dies verlangt. Besonders davon betroffen sind Menschen im Dienstleistungssektor.
Durch die digitalen Technologien haben sich Arbeitsplätze im Verkauf, an Schaltern, in Büros stark verändert. Viele dieser Arbeiten werden nun von zuhause aus oder von unterwegs verrichtet. Teleheimarbeit heisst diese Form der Tätigkeit.
Ein Umbruch mit grosser Wucht
«In der Schweiz hat Teleheimarbeit in den letzten Jahren zugenommen», bestätigt Christian Capacoel von der Gewerkschaft Syndicom: «Die Zahl ist immer noch klein, hat sich jedoch im Zeitraum zwischen 2001 und 2017 vervierfacht. 128'000 Menschen arbeiten in der Schweiz in solchen Verhältnissen.»
Die Gewerkschaft Syndicom spricht von einem epochalen Umbruch mit grosser Wucht. Dieser werde das Arbeitsleben weiter verändern. Von dieser vierten industriellen Revolution sei nicht nur die Wirtschaft, sondern die Gesellschaft als Ganzes betroffen. Darauf gelte es sich vorzubereiten, sagt Christian Capacoel weiter.
Draussen auf der Brücke ist es sehr laut, Trams und Busse fahren vorbei. Arbeiten im Lärm gehört für Lorenz Ramseyer zum digitalen Nomadentum dazu. Auf der lärmigen Brücke lässt es sich gut über die Schattenseiten des digitalen Nomadentums sprechen. Denn solche kennt auch er.
Der fehlende Schwatz auf dem Flur
Im alltäglichen Umgang mit Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen tausche man viele Informationen beiläufig aus. Diese fallen beim digitalen Nomadentum weg: «Die sogenannten Flurgespräche fehlen, in denen man Gerüchte austauscht oder Neuigkeiten erfährt.» Bei Meetings sei man dann halt per Videokonferenz oder Telefon zugeschaltet.
Kein gesicherter Lohn
Doch auch tiefer greifende, strukturelle Probleme bringe das ortsunabhängige Arbeiten mit sich, sagt Lorenz Ramseyer, als wir in die ruhigere Münstergasse einbiegen. «Es gibt keine Einkommenssicherheit», sagt er.
Weitere Baustellen seien die Versicherungen von digitalen Nomaden, die sich zum Beispiel komplett aus der Schweiz abgemeldet haben. Auch die Altersvorsorge sei nicht klar geregelt. «Gerade junge digitale Nomaden, die früh in den Arbeitsmarkt einsteigen, vernachlässigen dieses Thema gerne.» Gut und gezielt zu informieren sei wichtig.
Digitale Nomaden vernetzen sich
Aus all diesen Gründen hat Lorenz Ramseyer 2014 den Verein Digitale Nomaden Schweiz ins Leben gerufen. Davon erzählt er, als wir im Café der Unibibliothek den letzten Tisch ergattern. Eigentlich arbeitet er gerne in der Bibliothek selbst, doch dort ist Sprechen unerwünscht. Deswegen setzen wir unser Gespräch im Café fort.
Sein Verein zählt bereits 600 Mitglieder. Auf der Website stellt er Informationen zur Verfügung, informiert über Arbeitstools, lädt zu Infoveranstaltungen und Mitgliedertreffen ein. «Wir stehen ausserdem im Austausch mit Gewerkschaften und Berufsverbänden», so Ramseyer. «Ein Anfang ist gemacht, das Interesse ist gross.»
GAV für digitale Nomaden
Auch die Gewerkschaft Syndicom sieht Handlungsbedarf: Wie sieht es aus bei einem Unfall? Wie steht es um die Arbeitszeit? «Es gibt ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit», stellt Christian Capacoel klar. Ebenfalls müsse geklärt werden, wer die Kosten für das Unterwegssein und die Infrastruktur bezahle.
Bereits hat Syndicom vier Gesamtarbeitsverträge für digitale Nomaden in der Schweiz abgeschlossen oder ist dabei, sie auszuhandeln. Sie betreffen 50'000 Erwerbstätige.
«Es braucht eine Reform»
Vordringlich sei die Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen des Arbeitsgesetzes, so Capacoel weiter: «Es braucht keine Aufweichung der bisherigen Regelungen, sondern eine Anpassung, eine wirkliche Reform. Die Liberalisierung oder Flexibilisierung des Arbeitsrechts ist da der falsche Weg.»
Momentan sei man daran, mit Arbeitgebern über Zertifizierung von Plattformen zu verhandeln. Die Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation ILO seien dabei wegweisend.
Zum Telefonieren in die Ecke
Der Anfang ist gemacht, der Weg noch weit. Dieser Ansicht ist auch Lorenz Ramseyer. Da vibriert sein Smartphone. Geübten Schrittes geht er in den Zwischengang zu einer Telefonecke, um den Anruf entgegenzunehmen.
Ein Kunde hat mit ihm ein Treffen vereinbart. Und weil selbst digitale Nomaden wie er ab und zu einen echten Konferenzraum brauchen, verabredet er sich im Coworking Space Urbanfish in der Berner Altstadt. Hier kann man sich monatsweise einmieten oder einen Tagespass lösen – und trifft erst noch auf andere digitale Nomaden.
Denn eines ist klar: Manchmal brauchen auch Menschen wie Lorenz Ramseyer die Gesellschaft von anderen arbeitenden Menschen. Selbst wenn es nur sporadisch ist.