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Frau sitzt an Laptop und stützt Kopf auf die Hand.
Legende: Früher konnte man Erinnerungsgegenstände in eine Kiste legen und wegräumen. Heute bleiben Tote digital präsent. Shutterstock

Digitaler Nachlass «Der Ort der Trauer hat sich ins Internet verlagert»

Verstorbene auf Facebook: Eine Soziologin über das Trauern im Web, die neue Sichtbarkeit des Todes und digitale Zombies.

SRF: Hat sich unser Trauerverhalten im digitalen Zeitalter geändert?

Nina Jakoby: Die moderne Gesellschaft zeichnete sich lange dadurch aus, dass sie den Tod verdrängte. Das hat sich geändert. Der Tod wird sichtbarer, er tritt in die Öffentlichkeit. Die digitalen Technologien produzieren neue soziale Beziehungen: zwischen Trauernden, Trauernden und Freunden oder Fremden, aber auch zwischen Trauernden und Verstorbenen.

Diese neuen Gemeinschaften teilen Erinnerungen oder kommunizieren über ihre Trauer. Sie tauschen sich zum Beispiel auf der Facebookseite des Verstorbenen oder auf virtuellen Friedhöfen aus.

Entsteht im Netz damit auch eine neue Art des Trauerns?

Zur Person

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Nina Jakoby ist seit 2008 Oberassistentin und Lehrbeauftragte am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Soziologie der Emotionen, Soziale Ungleichheit und Familiensoziologie.

Durch das Internet sind die Verstorbenen weiterhin aktiv in der Gegenwart der Hinterbliebenen. Die Angehörigen können die Bindung an sie aufrechterhalten, indem sie über die Toten schreiben oder sogar Nachrichten an sie richten. Wenn sie sich mit anderen austauschen, bleibt die Erinnerungen lebendig.

Dieses kollektive Erinnern kann als ein neues Trauerritual verstanden werden. «Continuing bonds» heisst der Fachbegriff für ein Trauermodell, das fortgesetzte Beziehungen mit Verstorbenen beschreibt.

Was ändert sich für Hinterbliebene, wenn die Toten virtuell noch weiterleben?

Es gibt noch keine Erkenntnisse darüber, welche Rolle unser digitales Archiv beim Trauerprozess spielt. Trauernde, meist Eltern von jüngeren Verstorbenen, äussern in vielen Fällen aber vermehrt positive Reaktionen auf die Kondolenzen, die Anteilnahme auf Facebook, auch auf das Weiterexistieren der Verstorbenen im Netzwerk der Freunde.

Das kollektive Erinnern kann als ein neues Trauerritual verstanden werden.

Ist diese digitale Unsterblichkeit förderlich für den Trauerprozess?

Früher konnte man Erinnerungsgegenstände in eine Kiste legen und wegräumen. Das ist heute nicht möglich, weil die digitalen Hinterlassenschaften, beispielsweise auf Facebook oder WhatsApp, so präsent sind. Die Verstorbenen zu vergessen, wird dadurch schwieriger.

Man sollte sich auch bewusst machen, dass Tote nicht immer willkommen sind, vor allem bei belastenden Beziehungen zu Lebzeiten. Aus psychologischer Perspektive wird oft befürchtet, dass der Trauerprozess so nicht abgeschlossen werden kann und die Endgültigkeit des Todes verdrängt wird.

Das «Continuing bonds»-Modell passt aber gut ins Zeitalter der digitalen Medien. Es besagt, dass man die Trauer nicht abschliessen muss, man kann emotionale und soziale Beziehungen mit Verstorbenen aufrechterhalten. Das ist nichts pathologisches, das ist einfach ein neues Verständnis von Trauer.

Bei digitalen Zombies heben sich die Grenzen zwischen Leben und Tod auf.

In den USA programmierte eine junge Russin einen Chatbot aus den Textnachrichten eines verstorbenen Freundes und konnte so mit ihm nach seinem Tod weiterhin kommunizieren. Ist diese Art von Festhalten problematisch?

Dieser Fall ist mir bekannt. Dass die Hinterbliebenen mit dem Verstorbenen chatten können, wird da als sehr positiv beschrieben. Dieser Chatbot habe gar therapeutische Effekte. Die Freundin des Verstorbenen konnte sogar nach dem Tod neue Facetten des verstorbenen Freundes kennenlernen.

Andere Freunde haben den Bot aber abgelehnt und haben sich dadurch gestört gefühlt. Er wurde als ein nicht angemessenes Erinnerungsmedium betrachtet. Auf virtuellen Friedhöfen wurde bislang nur einseitig mit den Toten kommuniziert. Hier antwortet der Tote.

Dadurch heben sich die Grenzen zwischen Leben und Tod auf. Hierfür wurde der Begriff der digitalen Zombies geprägt, wenn Tote plötzlich Nachrichten versenden. Es gibt eine Angst vor Avataren, vor der Selbständigkeit der Toten, die bei solchen Projekten generiert wird.

Digitaler Nachlass

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Legende: Keystone

Wie sieht dieses Projekt aus ethischer Perspektive aus?

In Bezug auf postmortale Persönlichkeitsrechte kommen viele neue Fragen auf. Möchte ich, dass meine Online-Hinterlassenschaften – wie im Falle des Bots dieser Russin – die Grundlage für das «Ich» ist, das nach meinen Tod erschaffen wird? Kann man überhaupt meine Identität posthum anhand dieser Daten kreieren? Wird meine Persönlichkeit durch mein digitales Ich abgebildet? Das sind alles Fragen, mit denen wir uns in Zukunft beschäftigen müssen.

Wird unser digitales Erbe unsere Beziehung zum Tod grundlegend ändern?

Der kürzlich verstorbene Soziologe Zgymunt Bauman spricht davon, dass es den Tod eigentlich gar nicht mehr gibt. Der Tod sei nur noch ein Aufschub und Übergangsstadium, der durch ein «Verschwinden» ersetzt wird. Ein Verschwinden ist nicht endgültig, so wie es der Fall des Chatbots ja eindrücklich zeigt. Die neue Onlinepräsenz der Verstorbenen scheint in diese Richtung zu deuten, weswegen man auch von einer «digitalen Unsterblichkeit» spricht.

Lösen virtuelle Friedhöfe und unsere Social-Media-Feeds die realen Gedenkstätten ab?

Studien zeigen, dass virtuelle Friedhöfe nie ein Ersatz für die realen Grabstätten waren. Bei einer Umfrage von 2013 gaben aber 20 Prozent an, dass sie keinen Friedhof brauchen, um der Toten zu gedenken. So kann man schon sagen: Die Trauer hat sich losgelöst vom physischen Ort der Bestattung und für viele ins Internet verlagert.

Das Gespräch führte Ana Matijasevic.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 14.06.2017, 9:02 Uhr

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