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Doppelmoral der Kirche Heimliche Homosexualität im Vatikan – Ursache allen Übels?

Mit dem Buch «Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan» hat der französische Journalist und Soziologe Frédéric Martel für Aufsehen gesorgt. Bloss von Seiten des Vatikans wurde geschwiegen.

Frédéric Martel wäre für einen Angriff bereit gewesen. 14 Juristen haben ihn beim Schreiben seines Buches «Sodom» begleitet. Das Buch wartet mit 600 Seiten teils verstörendem Insidermaterial über den Vatikan auf.

Es ist das Ergebnis einer vierjährigen Recherche; rund 1500 Gespräche und Interviews hat Martel dabei geführt. Ihm gehe es aber nicht um einen Angriff auf die Institution der katholischen Kirche, sondern um die Aufdeckung eines soziologischen Systems.

Das System römisch-katholische Kirche

Sein Fazit ist gleichermassen pikant wie bekannt: Homosexualität sei ein Schlüssel, um das System römisch-katholische Kirche zu verstehen.

Denn gemäss Martel sind eine Mehrzahl der Bischöfe, Prälaten und Kardinäle im Vatikan homophil beziehungsweise homosexuell. Dass er mit dieser Einschätzung nicht komplett falsch liegt, vermuten auch Vatikanexperten.

Zufluchtsort für Homosexuelle

Martel liefert auch eine Erklärung dafür: Wer in den 1940er- und 50er-Jahren als junger Mann seine homosexuelle Neigung entdeckte, fand in der römisch-katholischen Kirche einen Zufluchtsort.

Dort wurde die angebliche Schwäche zu einer Stärke: «Man lebt ausschliesslich unter Männern, kann die Kleidung anziehen, die man will, und – das Wichtigste – man muss weder heiraten noch Beziehungen mit Frauen eingehen, ohne verdächtig zu wirken.»

Deshalb gebe es heute, in einer zunehmend liberalen Gesellschaft, kaum noch Männer, die Priester werden wollen, so Martel.

Einseitige Erklärung

Allerdings ist dieses Erklärungsmuster äusserst reduktionistisch. Weil es die Sexualität als Primat setzt und etwa nicht in Betracht zieht und Ernst nimmt, dass Männer auch aus echter Hingabe an Gott Kleriker werden möchten – sexuelle Orientierung hin oder her.

Trotzdem sind Martels Überlegungen keineswegs hinfällig, denn was er aufzudecken glaubt, ist eine komplexe und tragische Doppelmoral: Je verdrängter die eigene Homosexualität eines Klerikers, desto härter werde diese nach Aussen bekämpft.

Komplexe Doppelmoral

Nach Martels Einschätzungen ist es genau diese Ambivalenz, ja der Selbsthass, der die Skandale rund um die katholische Kirche begünstigt hätten.

So seien die missbrauchenden Priester häufig von ihren vorgesetzten Bischöfen oder Kardinälen gedeckt worden, weil diese ihre eigene Neigung möglichst verdecken wollten. Eine ausgeprägte «Kultur der Geheimhaltung und Lüge», wie Martel es pauschalisierend nennt.

Das Tabu Homosexualität

Auch wenn das alles etwas reisserisch daherkommt, ist das Buch aufgrund dieser Fingerzeige ein wertvoller Beitrag zur Diskussion um kirchliche Reformen. So zumindest versteht es Andreas Heek, Leiter der Arbeitsstelle für Männerseelsorge in Deutschland. Er fordert, dass Homosexualität innerkirchlich dringend enttabuisiert werde.

Würden die homophilen Priester gemeinsam gegen die offizielle Lehrmeinung rebellieren und sich outen, dann «fiele das homophobe Lehrgebäude» in sich zusammen, unterstreicht Heek seine Hoffnung.

Kein realistisches Szenario

Ein Massenouting homosexueller Priester, ist das realistisch? Andreas Heek weiss selbst, in welch prekäre Lage die Priester dadurch gelangten. Aber: «Solange die sexuelle Disposition weiter tabuisiert wird, und sich die Haltung der Kirche homosexuellen Menschen und Frauen gegenüber nicht verändert, wird die Kirche sich im Kreise drehen, weil sie mit sich selbst nicht im Reinen ist», so Heek.

SRF 1, Sternstunde Religion, 29.3.2020, 10 Uhr

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