«Das war mein Zuhause», sagt Jürgen Eggert, als er die rund zehn Quadratmeter grosse Zelle mit der Nummer 313 betritt. 1961, kurz nach dem Mauerbau, verbrachte der damals 19-Jährige ein knappes Jahr in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock.
Zwei Pritschen stehen in der Zelle und eine Toilette in der Ecke. Wahrlich kein behagliches Zuhause. Nicht mal nach draussen schauen konnte der junge Mann. Die Glasbausteine des Fensters lassen das Tageslicht nur gebrochen in den kargen Raum hinein.
Lebender Zeitzeuge
Jürgen Eggert hat den Unrechtsstaat DDR am eigenen Leib erlebt. Der 75-Jährige kehrt regelmässig an den Ort zurück, der ihn als junger Mann für sein restliches Leben prägte.
Wir wollten den Sozialismus überhaupt nicht.
Er führt Besucher durch das Gefängnis, das heute eine Gedenkstätte ist. Als Zeitzeuge erzählt Eggert, was er und Tausende andere hier erlebt hatten.
Eggert erinnert sich noch genau an seine Verhaftung: «Es war am 10. November. Da stand morgens die Stasi an meinem Bett – um halb sieben – und hat mich verhaftet.» Den ersten Tag verbrachte er im Keller der Stasi-Behörde in Greifswald. Dann wurde er nach Rostock verlegt.
Er wurde in eine winzige Zelle gesperrt. «Sie war nur etwa ein Meter im Quadrat, ohne Fenster, ohne Licht. Da musste ich mich nackt ausziehen.» Und warten. Irgendwann bekam er seine Kleider zurück und wurde in eine Zelle im dritten Stock verlegt.
Zwei Tage vor seiner Verhaftung war Jürgen Eggerts Bruder nach Westdeutschland geflohen. Die Stasi hatte die Familie Eggert aber schon vorher im Visier. Die Arztfamilie war stadtbekannt und ihre antikommunistische Einstellung auch. «Wir wollten nicht den Sozialismus verbessern oder links überholen. Wir wollten den Sozialismus überhaupt nicht.»
Angst als ständiger Begleiter
Über den Grund seiner Verhaftung liess man Jürg Eggert lange im Unklaren. Heute vermutet er, dass seine Verhaftung Familienmitglieder und enge Freunde abschrecken und mundtot machen sollte.
Sein ständiger Begleiter in den ersten Monaten hinter Gittern war die Angst. «Erstens vor den Schmerzen. Und dann hatte ich Angst, dass sie mir die Zähne rauskloppen würden.» Dass die Stasi solche Methoden anwandte, wurde in der Bevölkerung kolportiert.
Die Staatssicherheit und ihre Methoden
«Die Ungewissheit, die Ohnmacht und vor allem die Isolation der Gefangenen waren einkalkuliert und wurden von der Staatssicherheit bewusst eingesetzt», weiss die Historikerin Steffi Brüning. Sie forscht über das Rostocker Stasi-Gefängnis und sammelt Aussagen von Zeitzeugen.
Die Frauen und Männer sollten möglichst stark verunsichert werden. Beispielsweise indem jeder Kontakt zu anderen Häftlingen unterbunden wurde.
Es gab sogar eine Ampelanlage auf den Gängen, die dafür sorgte, dass die Wärter mit ihren Häftlingen nur den Gang oder das Treppenhaus betraten, wenn kein anderer Wärter mit Häftling unterwegs war. Die Wärter sprachen Gefangene nur im Befehlston mit der Nummer ihrer Pritsche an. Jürgen Eggert, da in Einzelhaft, war immer «Bett 1».
So sollte Eggert dazu gebracht werden, während der täglichen und stundenlangen Verhöre umfassende Geständnisse und Aussagen zu machen, teilweise zu Lappalien und absurden Vorwürfen.
Sie werden noch heulend darum bitten, aussagen zu dürfen.
Die Staatssicherheit war mehr als ein Geheimdienst. «Sie war auch Geheimpolizei und Untersuchungsorgan und als solches berechtigt, Menschen aus politischen Gründen auf unbestimmte Zeit einzusperren», erklärt Historikerin Steffi Brüning.
4900 Männer und Frauen wurden zwischen 1960 und 1989 allein im Rostocker Stasi-Untersuchungsgefängnis festgehalten und verhört.
Perfide Psychospiele statt Schläge
Jeder Häftling hatte seinen persönlichen Vernehmer, der für die Gefangenschaft den einzigen menschlichen Kontakt darstellte. Die Verhöre dauerten Stunden. «Ich war aus Hass standhaft», erzählt Jürgen Eggert. Der Vernehmer habe dann rumgebrüllt: «Sie werden noch heulend darum bitten, aussagen zu dürfen.»
Und dann waren da die «miesen Tricks», wie der 75-Jährige sie nennt. Der Stasi-Mitarbeiter bekam beispielsweise einen fingierten Anruf und tat so, als sei jemandem aus der Familie etwas Furchtbares zugestossen.
Die Stasi setzte auf psychische Gewalt. Geschlagen wurde Jürgen Eggert nie. Seine Zähne durfte er behalten.
Die lang ersehnte Ausreise in den Westen
Nach elf Monaten Untersuchungshaft und vielen Verhören wurde Jürgen Eggert angeklagt wegen «schwerer staatsfeindlicher Hetze». Das Urteil, das die Stasi jeweils dem Staatsanwalt diktierte, lautete in Eggerts Fall drei Jahre Haft.
Nach einem Theologiestudium durfte er 1975 mit seiner Frau und seinem Kind endlich ausreisen. Doch selbst in seinem neuen Zuhause in Westdeutschland, wo Jürgen Eggert heute noch lebt, bespitzelte ihn die Staatssicherheit bis zum Ende der DDR weiter, wie er heute aus seinen Stasiakten weiss.
Für Jürgen Eggert ist es wichtig, immer wieder an Ort zurückzukehren, an dem ihm und Tausenden anderen Unrecht geschah. «So etwas darf nicht nochmal passieren. Wir hatten die braune Diktatur, die rote Diktatur. Nun reicht es mit Diktaturen in Deutschland.»